Wie oben so unten

Der Meditierende, der Meditationslehrer und die Regression

In den ersten Jahren des Meditierens fühlen sich viele befreit. Sie entdecken ein wesentlich reicheres Innenleben und sind fasziniert. Das bringt zum Teil einen ungeheuren Elan und sie üben eifrig. Immer neue Entdeckungen werden gemacht. Die Außenwelt verliert ihre überproportionale Übermacht. Doch dann kommt unweigerlich ein Stutzen, und große Widerstände werden wach.

In diesen nun innerlich schwierigen Zeiten tritt meistens die Frage auf:
“Warum gehe ich eigentlich diesen Weg?
Ging es mir vorher nicht besser?
Ich hatte mit all diesen inneren Schwierigkeiten nichts zu tun!
Sind es die richtigen Übungen? Ist es der richtige Meditationslehrer für mich?”

Es bleibt meistens nicht bei diesem ersten Schritt. Es folgt dann der nächste:
“Der Meditationslehrer ist schuld daran, dass es mir jetzt so schlecht geht. Irgendetwas macht der falsch. Bei dem stimmt etwas nicht. Da stimmt etwas nicht.”

Der Mensch, ob Frau oder Mann, der bis dahin die große Freiheit “brachte”, wird nun degradiert.
Wenn man gelernt hat, mit Übertragungen umzugehen, ist dies normal und sehr fruchtbar. Man erkennt die fundamentalen Ängste in sich. Doch die in dieser Zeit auftretenden Widerstände und Ängste sind generell so massiv, dass die Menschen von den Widerständen in Besitz genommen werden. Diese Menschen verlieren dann ihre “Objektivität”. Sie wollen nur weg, nur flüchten. Auch mir ging es so.

An diesem Punkt angekommen, hören viele mit der Meditation auf oder wechseln die Lehrer. Das ist natürlich völlig in Ordnung, wenn sie nicht in folgende Falle laufen:
Ein guter Meditationslehrer lebt sein Leben, geht seinen Weg. Er wird von innen her gedrängt, seine Erfahrungen weiterzugeben. Er bietet sich und seine Erfahrungen an. Es kommen Menschen, die diese aufgreifen und sich angesprochen fühlen. Viele von ihnen haben bestimmte Vorstellungen und Erwartungen. Halten sie daran fest, können sie sich meistens nicht auf einen tiefen Kontakt mit dem Lehrer einlassen und gehen wieder. Einige finden den tiefen Kontakt und bleiben.
Es folgt für diese Menschen eine Phase der Regression. Das ist zwar vom Meditationslehrer nicht erwünscht, doch nicht zu verhindern. Wichtig ist jetzt, dass der Meditationslehrer so reif ist, den Sockel, auf den ihn, der in der regressiven Phase befindliche Meditierende stellt, nicht anzunehmen. Dass er auf den Sockel gestellt wird, ist nicht zu vermeiden.
Natürlich meine ich mit Regression keine krankhafte Regression. Ich nehme dieses Wort, um die Möglichkeiten, die darin liegen, besser zu fassen:
In dieser Regression liegt die Möglichkeit der Nachreifung. Gefährlich würde es, wenn sie auf das ganze Wesen der Persönlichkeit übergriffe. Dann wäre es krankhaft.
Es ist also nur eine partielle Regression und fast ausschließlich in der Beziehung zum Meditationslehrer aktiv. Durch das Potential der Nachreifung, die in ihr liegt, kommt es dann zu dem Phänomen, dass der Meditierende in seinem eigenen Leben sehr schnell selbständiger als vorher agiert und schaut. Eine kaum gekannte Klarheit tritt hier ein, die jede Lebenssituation durchschaut und uns ermöglicht, ohne die vorher vorhandenen inneren Verstrickungen zu leben.

Nach einiger Zeit beginnt die eigentliche Reifung des Meditierenden. Nun stößt er den Lehrer von dem Sockel, auf den er ihn vorher gesetzt hatte, um selbst die Verantwortung für seinen Weg zu übernehmen. Doch der Drang nach Regression und die Ängste vor der eigenen Verantwortung sind so groß, dass der Sockelsturz oft nicht reicht. Der Lehrer wird häufig zusätzlich noch in eine tiefe, dunkle Grube geworfen. Spätestens hier müsste der gereifte Meditierende merken: “Da stimmt etwas nicht! Was mache ich da?” Dies immer vorausgesetzt: Der Lehrer hat sich die ganze Zeit durch die Übertragungen nicht verbiegen lassen, sondern sein Leben gelebt.

Dieser äußerst negative Mechanismus der Loslösung ist der gefährlichste “Moment” in der Persönlichkeitsentwicklung mancher Meditierenden. Gelingt dieser Schritt nicht, bleibt er in der inneren Unselbständigkeit und sucht sich oft sofort ein anderes Objekt für seine Übertragungen. Das Kind in ihm kann sich mit dem erwachsenen Teil nicht verbinden und somit keine Ganzheit bilden. Dieses Kind wandelt sich nicht vom “Kindisch-Sein” zum “Kindlich-Sein”.
Hier ist das kindische Kind, das sich nach Geborgenheit bei anderen sehnt und sich davon abhängig macht, dort ist das kindliche Kind, dass in Verbindung mit dem inneren Erwachsenen die Geborgenheit in sich findet und damit unabhängig wird. Es klammert sich nicht mehr an andere. Hier würde die positive Definition von Regression sehr gut passen: Regression = Einfachheit.

Der Meditationslehrer ist in dieser Phase machtlos. Das ist natürlich für ihn schmerzhaft, doch hier entscheidet sich seine Reife. Ihm bleibt nur eine einzige Möglichkeit: Er bleibt zur Auseinandersetzung bereit, er signalisiert hin und wieder: Ich bin noch da, mischt sich aber in den laufenden Prozess des Schülers nicht ein.

Gelingt dem Schüler dieser Schritt vom alten Ich zum “Kindlich-Sein”, kann die Meditationsarbeit mit dem gleichen Lehrer ohne Unterbrechung weitergehen. Dann ist er jedoch nicht mehr der Lehrer. Er wird zum Partner, der einige Erfahrungen voraushat.

Ohne diese Form der Regression ist dieser Weg der inneren Entwicklung kaum möglich. Vieles Neue stürmt auf den ernsthaft Meditierenden ein. Er muss einen Teil der Verantwortung an den Lehrer abgeben, sonst versucht er, das Neue an das alte Ego zu binden und somit zu verfälschen. Der Lehrer hat die Aufgabe durch Hinweise aber auch Provokationen, dieses alte Ego zu erschüttern und somit den Platz für das Neue frei zu machen.

Seit ich das erkannt habe, verstehe ich die Tibeter besser, wenn sie konstatieren, dass der Weg in letzter Konsequenz ohne Meister nicht gegangen werden kann.