Wie Oben So Unten

Nehmen und Geben

Wenn wir uns mit diesen beiden schlichten Wörtern längere Zeit beschäftigen, können wir sehr viel Persönliches und Spirituelles entdecken.

Betrachten wir die Wörter zunächst unter dem Gesichtspunkt der Persönlichkeit.

Da ist das Nehmen:
Ich bemerke etwas, was auch immer, und ich nehme es an mich. Ich lasse es nicht mehr los, gebe es nicht mehr her, behalte es, horte es. Dies oder das will ich haben, möchte ich unbedingt bekommen.
Ich schlage vor, dass der Leser sich zuerst eine Liste erstellt über das, was er haben, bzw. unbedingt haben möchte.
Als zweiten Schritt untersucht man seine eigene Wohnung und registriert auf einer Liste, was man irgendwann einmal unbedingt haben wollte und sich auch „gegönnt“ hat.
Ich glaube, dass jeder schon einmal umgezogen ist und erstaunt oder gar entsetzt darüber war, wie viel „unnötige“ Dinge sich in irgendwelchen Schränken und Ecken befanden.

Ich habe in meiner therapeutischen Arbeit auch Menschen begleitet, die absolut nichts wegwerfen konnten. Selbst die ausgetrunkenen Flaschen, alte Dosen oder Essensreste horteten sie in ihrer Wohnung. Es blieb nur ein Weg von der Eingangstür zur Küche und zum Bett frei. Diese Menschen sind eigentlich nicht anders als wir, nur konsequenter und radikaler. Ihre Konsequenz lässt sie uns neurotisch erscheinen. In der Kernproblematik sind wir ihnen gleich.

Da ist das Geben:
Ich habe etwas und könnte es weggeben. Dem aber jetzt meine Gier im Wege. Aus der Gier heraus gebe ich nur unter der Bedingung, dass ich etwas zurückbekomme und sei es Dankbarkeit. Bekomme ich anscheinend nichts zurück, bin ich enttäuscht.

Was ist nun diese so genannte Kernproblematik?
Da ist das Wesen Mensch!
Sein Körper hat den Auftrag, diesem Wesen den Aufenthalt auf dieser Erde zu ermöglichen. Um dies zu erreichen, hat der Körper den Befehl, feste Nahrung, Flüssigkeit und Sauerstoff aufzunehmen und zu verarbeiten. Was zu viel ist, gibt er wieder ab. Der Befehl ist aber so existenziell, dass der Körper Vorräte anlegt (u. a. Fett). Es könnten ja schlechte Zeiten kommen, in denen er seinen Auftrag nicht erfüllen kann (Hunger und Durst).
Das Wesen Mensch hat eine weitere Instanz, die zu seiner Hilfe eingesetzt wurde: die Emotionen. Die Emotionen sind freier und flexibler als der Körper. Also verändern sie den ursprünglichen Auftrag. Gemischt mit der Angst, die Existenz zu verlieren (den Auftrag nicht erfüllen zu können), produzieren sie den Aspekt der Gier.
Hinzu kommt nun das Denken, in diesem Fall vor allem das Denken mit seinen Vorstellungen und Wünschen. Schon wird aus dem natürlichen Nehmen zum Erhalt der Existenz ein Haben-Wollen und Horten. Je mehr wir haben, desto weniger brauchen wir das Ende unserer Existenz zu fürchten.
Nun löst sich das Ganze vom ursprünglichen Auftrag. Die Wünsche lösen den Auftrag ab und werden mehr und mehr die Basis des Nehmens.
So können wir je nach innerer Einstellung sagen: Unsere Wünsche sind die kompensierte Existenzangst oder die Basis unserer Zivilisation. (Zur Erklärung: Im Gegensatz zu einer Zivilisation baut eine Kultur immer auf spiritueller Erkenntnis auf – was bei uns im Westen nicht mehr der Fall ist.)

Wir können dieses Phänomen, durch Wünsche kompensierte Existenzangst, auf vieles übertragen, denn es ist die Grundeinstellung fast aller Menschen. Nahezu das gesamte Berufsleben der Industriegesellschaft (der kapitalistischen Gesellschaft) gehört dazu. Ich vermute, dass die kommunistische Gesellschaft genau an dieser Gier des Einzelnen gescheitert ist.
Sehr viele Paare leben auf der Ebene des Nehmens. Selbst die Grundlage vieler Therapien, auch der Gestalttherapie, hat diese Grundhaltung als Fokus: Was hast Du davon?

Ich möchte hier nicht den Moralapostel spielen. Man verstehe mich bitte nicht falsch. Da wir Naturwesen sind, handeln auch wir nach diesen Kriterien, doch es muss uns bewusst werden, dass dies mit dem menschlichen Sein an sich nicht viel zu tun hat. Das beginnt erst mit dem Geben.

Schauen wir uns nun das Geben an:
Erst mit dem Geben bewegen wir uns auf einer sozialen Ebene. Doch selbst das Geben ist noch nicht rein menschlich, denken wir nur an die Brutpflege der Tiere. Auch im Geben steckt noch ein triebhafter Zug. Dies bezieht sich natürlich auch auf die Betreuung der eigenen Kinder. Viele Eltern meinen: „Ich habe doch alles für die Kinder getan!“ Dabei sollten sie überprüfen, ob sie nur dem Brutpflegetrieb gehorchten oder die Kinder auch als eigenständige Persönlichkeiten wahrgenommen haben.
Wir müssen aus diesem Hintergrund heraus sehr aufpassen, dass wir uns nicht zu edel vorkommen, wenn wir anderen etwas geben.
Wenn Kinder etwas geschenkt bekommen, wird von ihnen höflichkeitshalber verlangt, dass sie „Danke“ sagen. Die anderen geben also nicht nur sondern erwarten etwas zurück: mindestens ein „Danke schön“. Wenn wir ein „Danke“ erwarten sind demnach Geschenke kein echtes Geben, Uns muss bewusst werden, dass wir keine Kultur des Gebens haben. Zum echten Geben gehört eine reife Persönlichkeit. Man kann es auch so ausdrücken: Über das Geben und eine ehrliche Selbstwahrnehmung kann ich ein Stück reifen.

Ich bin dazu übergegangen, in meinen Gruppen die Möglichkeit zu schaffen, für Menschen etwas zu spenden, denen es schwer fällt, z.B. das Geld für eine Meditationswoche aufzubringen. Alles verläuft anonym. Provozierend verkünde ich, dass diese Möglichkeit existiert, damit der Einzelne sich nicht hinter einem „Vergessen“ verstecken kann. Aber gerade im Anonymen liegt die Chance, sich selbst im Geben zu erkennen. Noch etwas deutlicher: Man ist mit dem Spenden nicht automatisch edler, sondern kann seine innere Motivation klarer erspüren.

Dabei ist es vollkommen uninteressant, ob man viel oder wenig gibt. Jemandem, der schmerzhaft viel an irgendeine Gemeinschaft spenden würde, stände ich misstrauisch gegenüber. Beim eigentlichen Geben spielt das Herz eine entscheidende Rolle, nicht die Selbstkasteiung. Wenn sich keine Wärme in der Brust einstellt, sollten wir unser Geben überprüfen. Sind wir unserer selbst bewusst, können wir auch noch andere Zeichen für ein echtes Geben wahrnehmen: Der Rücken fühlt sich weich an und es ist so, als würden „Energieschauer“ den Rücken hoch flammen, oder wir haben die Empfindung, dass die Beine weicher werden.

In der Meditation können wir unsere Balance von Geben und Nehmen sehr gut in der Atmung beobachten. Der Ein- und Ausatem symbolisieren nicht nur unsere Einstellung dazu, er ist Teil des Gebens und Nehmens. So habe ich festgestellt, dass die Kurzatmigkeit in unserer Gesellschaft anscheinend daher kommt, dass wir bemüht sind viel einzuatmen; doch ich kann nur viel einatmen, wenn ich vorher viel ausgeatmet habe!

Das Herz beginnt sich zu bewegen
Erscheint dieses Zeichen; beginnt sich das Herz beim Geben zu bewegen, sind wir aus den triebhaften, egozentrischen Ebene in das geistige Leben aufgestiegen. Hier gelten andere Gesetze.
Nicht mehr die Bereicherung und das Horten beim Nehmen sind das Maß, sondern der Austausch, der Wechsel, die Veränderung. Mit der Bereitschaft der Veränderung beginnt nun die dritte Phase der Entwicklung: Die Liebe.
Und in der echten Liebe hat das Geben und Nehmen seinen Höhepunkt erreicht. Geben und Nehmen sind nicht mehr getrennt. Aus der Dualität (Geben und Nehmen) ist eine Einheit geworden (Geben/Nehmen = Liebe).

Noch ein Hinweis:
Diese eben entwickelte Sicht wird schließlich für die Menschen „lebenswichtig“, die von ihrem Bewusstsein her Kontakt zu ihren inneren Räumen und ihrem Energiefeld haben. Dann gibt es keine schlechten oder gar negative Energien sondern nur disharmonische. Befindet man sich in dem eben erläuterten Geben und Nehmen, werden die fremden, disharmonischen Energien durch unseren Zustand harmonisiert. Uns geht es in dieser Phase nicht unbedingt gut oder sogar schlecht, doch nach einiger Zeit ordnet sich in unserem Innern alles von selbst und wir gelangen wieder in einen harmonischen Zustand.

Das ertragen der Disharmonien ist der Preis, den wir für unsere Entwicklung zu zahlen haben. Doch warum sollten wir sonst diesen Weg gehen? Um uns selbst zu erlösen? Da wir als individuelle Monade gar nicht existieren, ist es „unsere“ Aufgabe und Pflicht, anderen zu helfen. Dies ist für mich das buddhistische Mitgefühl oder die christliche Nächstenliebe. Ist sie entwickelt, kann die evolutionäre Entwicklung der Menschheit ihren weiteren Gang gehen.