Wie Oben So Unten

Die leiblichen Eltern und das Idealbild von Eltern

In meiner jahrzehntelangen, intensiven Begegnung mit Menschen aller Altersstufen fiel mir ein Kriterium besonders auf: Uns Menschen scheint ein Idealbild von Eltern eingepflanzt worden zu sein. Mit diesem Idealbild messen wir das Verhalten und die Beziehungsfähigkeit unserer Eltern.
In den ersten 5-6 Lebensjahren projizieren wir dieses Idealbild auf unsere konkreten Eltern. Danach wird diese Projektion mehr und mehr zurückgenommen. Es wird auf andere Personen projiziert: Auf Lehrer, Stars, Verwandte (oft Großeltern). Sind wir erwachsen, kommen oft Politiker, Chefs und berühmte Persönlichkeiten oder Vereine hinzu.
Wie eindringlich dieses Bild ist, habe ich bei Lehrern feststellen können. Der Rektor/die Rektorin einer Schule werden von den Lehrern fast immer an diesem Bild gemessen. 80% der Schwierigkeiten in den Kollegien entstehen aus diesem inneren Drang heraus. In der Pubertät wird dieses Idealbild in die Verehrung von berühmten Persönlichkeiten oder Vereinen, olympischen Spielen oder Fußballweltmeisterschaften projiziert (also „Orientierungen“, mit denen kein persönlicher Kontakt besteht), an denen dann die eigenen Lebensumstände gemessen oder verdrängt werden.

Dieser Hang zur Projektion des Idealbildes bleibt uns lebenslang erhalten. Zeitweise ist es mehr im Vordergrund, in anderen Phasen ist es überdeckt. Kein Mensch kann sich ihm entziehen.

Wir müssen akzeptieren, dass dieser Drang in uns ist, sollten aber allmählich damit beginnen, ihn stufenweise zurückzunehmen.

Wie geht das?

Als erstes beginnen wir, der Empfindung nachzuspüren, die entsteht, wenn die verehrte Person oder der Verein scheinbar erfolgreich ist. Was spüren wir dann im Inneren? Als nächstes folgt die Frage: Was macht mich daran so euphorisch? Ist es der Erfolg? Warum fühle ich mich so leicht oder schwer? Warum wähle ich diesen Verein? Was geschieht, wenn er in meinen Augen versagt? Gerade in der Übereinstimmung von Körperbewusstsein und Intellekt beginnt die Selbsterfahrung, denn zwischen beiden Ebenen befindet sich die emotionale Ebene, die wesentlich dominanter unsere Lebenseinstellung bestimmt, als wir wahrhaben wollen.

Nehmen wir als Beispiel: Erfolg - Erfolglosigkeit.
Auf mich bezogen: Messe ich meinen Erfolg daran, dass ich zehn E-Mails pro Tag von den Lesern dieser Webseite bekomme oder eine pro Woche, pro Monat ...? Was geschieht in mir, wenn ich einmal wochenlang keine Rückmeldung bekomme, obwohl ich jeden Tag einmal nachschaue? Dann übertrage ich dieses Forschungsergebnis auf meine gesamte Lebenssituation. In der Kindheit lernen wir gewöhnlich nicht, unsere Erfolge zu würdigen sondern unsere Misserfolge zu beachten. (Es wird zu wenig gelobt.) Das bedeutet, wir müssen uns schulen, unsere Erfolge zu erkennen. Da unsere Erfolge nichts mit Goldmedaillen zu tun haben, die von den Medien gewürdigt werden, ist das natürlich oft etwas mühselig. Stelle ich jedoch fest, dass ich, bezogen auf meine Lebensumstände, auch Erfolge verbuchen kann, werden Kräfte in mir frei, die die Basis für den nächsten Erfolg sind. Wichtig ist dabei, dass ich den Erfolg sehen lerne. Oft erfassen wir den Erfolg nicht und setzen sofort als nächsten Schritt das nächste Ziel zu weit, so dass der "Misserfolg" vorprogrammiert ist. In diesem Fall muss ich mich erforschen, warum ich den Erfolg nicht sehen kann: Ich habe meine inneren Werte noch nicht zu würdigen gelernt usw.

Nun zurück zu dem, um was es mir geht:
Wohlgemerkt, das Beispiel von eben (Erfolg - Misserfolg) soll wirklich nur als Beispiel genommen werden. Man könnte auch das Schuheputzen oder Schreibtischaufräumen nehmen.
Entscheidend ist, nach der betrachteten Handlung kurz innezuhalten und die abgerundete und abgeschlossene Gestalt anzuerkennen und die nun aufkommenden Empfindungen zu würdigen. Aus der Ebene dieser Empfindungen steigt das Idealbild der Eltern auf. Wenn wir dies nicht erkennen, erkennen wir auch nicht, dass wir dieses Idealbild auf unser eigenes Leben und auf unsere eigene Persönlichkeit übertragen. Wir sind dann nie mit dem zufrieden, was wir erreicht haben. Wir wollen immer mehr, und dieses Ziel des Mehr rückt die Wertschätzung der eigenen Person in unerreichbare Ferne.
Letzteres ist für mich übrigens die Grundlage des Kapitalismus. Aber das wäre ein anderes Thema.

Würdigt man während dieses Forschens die aufkommenden Empfindungen, bleiben sie nicht die Basis für weitere Handlungen. Man erkennt nun, dass in der Empfindungsebene als solche, die angenehmen Aspekte des Menschen eingebettet sind: Mut, Vertrauen, Liebe, Geborgenheit, Zufriedenheit, Freiheit.
Die Geborgenheit, die wir allenthalben im Außen suchen, finden wir hier. Wir brauchen dann die anderen Menschen nicht dafür verantwortlich zu machen, wenn wir diese Werte durch sie nicht in uns finden.

Es geht noch einen Schritt weiter:
Wir entdecken, dass in dem Idealbild der Eltern ein Wissen verborgen ist. Das Wissen, dass es etwas All-mächtiges gibt und dass wir Teil davon sind.
Von diesem Augenblick an können wir unsere eigenen Eltern so lassen, wie sie sind. Wir brauchen ihre Anerkennung nicht mehr. Wir entdecken vielleicht sogar, dass wir von ihnen auf ihre Weise längst anerkannt worden sind. Auf ihre Weise und nicht so, wie wir es beansprucht haben. Auch die Projektionen auf die anderen Menschen, die Vereine, usw. brauchen wir nicht mehr. Wir haben sie vielleicht noch, aber sie werden nicht mehr mit unserer Identifikation belegt. Es bleibt höchstens noch ein Spiel.

Nun erst sind wir ein ganzes Stück er-wach-sener geworden. Wir haben die oft unerfüllten Sehnsüchte der Kindheit hinter uns gelassen und die Erfüllung in uns gefunden.