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Frühkindliche Erziehung, oder: Unsere in der Tiefe sitzenden neurotischen Mechanismen

Um uns in unserem Erwachsenenverhalten und -empfinden zu verstehen, ist es notwendig, immer wieder zu untersuchen, wie wir vom Grundsätzlichen her beschaffen und geworden sind. (Dieser Artikel ähnelt dem Artikel über Frust.)

Schauen wir uns die Grundbedürfnisse des kleinen Kindes an, so entdecken wir, dass es außer Essen, Trinken und Geborgenheit noch ein Grundbedürfnis hat: Sich in der Begegnung mit der Außenwelt zu entfalten. So gilt es, dem kleinen Kind eine „große Wiese“ zur Verfügung zu stellen. Vom inneren Bedürfnis her, nur begrenzt durch die ererbten Anlagen, versucht das Kind die Wiese zu erforschen und sie darüber hinaus möglichst bis ins Unendliche auszudehnen. Das Kind spürt sein Recht dazu.
Vom eingeengten, begrenzten Erwachsenen her betrachtet, agiert das Kind unverschämt, maßlos, rotzfrech. Doch das Kind versteht die Welt des eingegrenzten Erwachsenen nicht und stößt bei dem berechtigten Versuch, sich auszudehnen, immer wieder an dessen Grenze. Das ist gut so, wenn auch unendlich nervend und anstrengend.

Nun gibt es, wie so oft, zwei Möglichkeiten:

1. Ist der Erwachsene im Erkennen seiner eigenen Wiese frei geblieben oder hat er seine offene Wiese wieder erkannt, braucht er seine Wiese nicht zu verteidigen und somit auch nicht ängstlich oder brutal zurückzuschlagen. Er sieht relativ gelassen das berechtigte Bemühen des Kindes und weist es in seine Grenzen, wenn es zu sehr auf die eigene Wiese drängt. Er weist es auf die notwendige Begrenzung bzw. Überlappung der Wiesen hin. Das Kind ist zufrieden und erleichtert (bis zum nächsten Versuch) und hat nun die Zeit, seine Wiese genauer zu erkunden. Es hat das Phänomen der Überlappung der Grenzen für den Augenblick "erkannt". Irgendwann wird es den gleichen Versuch zum Leidwesen der Eltern wieder starten. Dann wird die Überlappung noch deutlicher erkannt usw..
Es geht also um das Erkennen der Überlappungszonen. Nur hier sind echte Kompromisse möglich. Kompromisse, die ein Zusammenleben erst fruchtbar machen und keine Enge, Angst, übertriebene Verteidigungslust oder Angriffslust hervorrufen. Keiner wird in die Enge getrieben. Kein Übergriff findet statt. Die Menschen fühlen sich in ihrer "Begrenztheit" wohl und vor allem: Sie fühlen sich nicht allein.
Ich möchte besonders Paaren empfehlen, dieses Bild auf ihr Zusammenleben zu übertragen und weiterzuspinnen.

Anmerkung des Korrekturlesenden: Bis hierhin konnte ich auch beim ersten Lesen (vom Kopf her) gut folgen.
Ein paar Dinge, die mir beim zweiten Lesen in den Kopf kamen:
1. So wie Du es beschrieben hast, habe ich gelernt jemanden als Gast willkommen zu heiß. Dann kann ich ihn einfach zulassen.
2. Auf das Paar bezogen (da kann ich momentan sogar mitsprechen): Verliebtheit scheint die Wiesen auch zu öffnen.

Antwort: Verliebtheit ist ein Ausnahmezustand. Bezogen auf das Bild von der Wiese, heißt das: Die Wiese existiert zwar irgendwo da unten, doch ich bin der Himmel über der Wiese. Das soll kein Scherz sein. Lange hält man das nicht aus, dann fällt man unweigerlich auf die Wiese zurück und baut langsam wieder die alten Mauern auf. Das klingt sehr pessimistisch, ist es aber nicht, denn wenn wir diesen Mechanismus erkennen, können wir uns davor relativ gut schützen oder ihn sogar überwinden.

2. Die Eltern des kleinen Kindes haben den Zugang zu ihrer eigenen Wiese verloren und noch nicht wieder gefunden. Sie haben eventuell sogar einen Zaun um ihre Wiese gebaut. Dann wird jede Berührung des Zaunes Angst und Aggression auslösen. Verteidigungs- und Angriffsreaktionen werden in ihnen automatisch ausgelöst. Das kleine Kind fühlt sich vor den Kopf gestoßen und vor allem: in seinem berechtigten Wunsch nach Selbstfindung nicht verstanden. Es fühlt sich nicht gesehen und daher wertlos: ohne Wert. Aus Verzweiflung grenzt es sich ebenfalls ein. Aus therapeutischer Erfahrung weiß ich, dass dann eine Mauer gebaut wird, denn nur ein Zaun ist zu durchlässig und somit zu bedrohlich. Jeder Versuch diesem Menschen an seiner Mauer zu begegnen, löst bei ihm Angst aus und keine Freude, wie es normal wäre.
90% der späteren Streitigkeiten zwischen Menschen entstehen aus der Existenz dieser Mauer und haben mit der dahinterliegenden Wiese nichts zu tun. Vom Subjektiven her betrachtet vermischt sich aber das Bild der Mauer mit der eigenen Wiese; sie wird nicht erkannt. Daraus entsteht ein unmöglicher Zustand, der unendlich viele Irrtümer erzeugt. Nur während des Alleinseins erlaubt sich zum Glück der Betreffende, auch einmal seine Mauer völlig zu vergessen und auf der eigenen Wiese zu spielen, ohne dieses Spiel würde dieser Mensch sonst auch irgendwann völlig verzweifeln.

Anmerkung der Korrekturlesenden:Ich kann nicht mehr sagen, warum ich beim ersten Lesen diesen Teil nicht verstanden habe, aber als ich es dann ohne Kopf lass, war es sofort klar.
1) Du schreibst oben „es fühlt sich nicht gesehen“. Ich verstehe das so, dass das Kind von außen keine Definition erfährt und sich daher selbst nicht definieren kann.

Antwort: So ist es.

2) Am Ende ist mir nicht klar, ob die Wiese vor der Mauer oder hinter der Mauer ist. Klar ist, dass die Wiese nicht klar gesehen wird und ein Wirrwarr herrscht.

Antwort: Das ist leider häufig das Resultat

Was ich mit diesem Artikel transportieren will:

Der selbstbewusste, optimistische Mensch zeichnet sich darin aus, dass er die Überlappungszone der verschiedenen Wiesen erkennt, anerkennt und akzeptiert. Er versucht nicht seine Wiese in die Wiese der anderen hinein zu verschieben (Macht auszuüben). Andererseits steht er an seiner Grenze und sagt: „Nein“ - einfach "Nein" - bei dem Versuch der anderen, einen Teil seiner Wiese zu annektieren.
Je selbstbewusster dieses Nein gesprochen wird, desto erleichterter kann der andere auf seiner Wiese bleiben, denn er merkt, auf Grund des Selbstbewusstseins, dass der andere nicht angreifen wird.

Ich gehe für mich sogar so weit zu denken, dass alle Machtstrukturen, bis "hinauf" zu politischen Reaktionen, aus der panischen Angst geboren werden, der andere könnte versuchen, die eigene Wiese zu erobern. Jedes Machtbedürfnis ist ein Ausdruck dieser Angst und je größer das Bedürfnis nach Macht, desto größer die Panik vor dem Machtmissbrauch der anderen und umgekehrt. Selbst in der Depression finden sich die gleichen Strukturen.