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Das Leiden an der Omnipotenz

Jeder Meditierende sollte sich auch mit dem Faktor der Omnipotenz in sich auseinandersetzen:
„Ich bin der Mittelpunkt der Welt. Alles ist auf mich bezogen. Ich kann alles.“
Das ist die Sicht des gesunden kleinen Kindes. Gleichzeitig weiß das Kind ganz genau, dass das absolut nicht stimmt, dass es völlig abhängig von den Erwachsenen ist.

Die erste Phase dieser omnipotenten Einstellung beginnt mit der Geburt.
Bis zur ersten Trotzphase (viertes Lebensjahr) bleibt die Omnipotenz mehr eine Empfindung und bietet eine ungeheure Geborgenheit, denn die Kinder sind noch ans Universelle angeschlossen. Doch mit der ersten Trotzphase beginnen die große Schwierigkeiten. Dann entsteht ein Jonglieren zwischen dem beginnenden „Wissen“ um die beiden Extreme: Ich bin der Mittelpunkt der Welt (Omnipotenz), alle Bezugspersonen kreisen um mich wie Planeten um die Sonne, - und, ich bin absolut hilfsbedürftig.

Zwei Beispiele dazu:
1. Beispiel: Gestern Mittag holte ich mit meiner kleinen Tochter (4,5 Jahre) meinen Sohn mit dem Auto vom Schulbus ab. Sein Schulranzen war sehr schwer. Wir kamen zu Hause an, und meine Tochter wollte den Schulranzen tragen. Sie hatte ihn sich schon im Auto umgehängt, so dass sie kaum aus dem Auto heraus kam. Der Ranzen zog sie nach hinten. Ich half ihr. Dann gingen wir einige Schritte und der Ranzen zog sie noch stärker nach hinten. Wir stiegen mühsam zwei Stufen einer Treppe hinab. Ich bekam Angst, dass sie stolpern und die Treppe hinunter fallen würde. Sie wehrte ungehalten die Hilfe ab. Dann stellte sie aber auf der zweiten Stufe fest, dass sie es nicht allein schaffen würde. Da musste ich leider herzhaft lachen. Daraufhin war sie unglaublich sauer und erbost und streckte mir ihre Zunge heraus. Sie ließ den Ranzen fallen und lief weinend weg. Durch mein Lachen schien sie tief verletzt zu sein. Als ich mich entschuldigen wollte, stieß sie mich wütend weg.

Was war geschehen?
Sie hatte erkannt und ich hatte es demonstriert, dass sie nicht omnipotent ist, also alles kann. Mein Lachen hatte ihr gezeigt, dass ich sie in ihrer Nicht-Omnipotenz (Hilflosigkeit) erkannt hatte. Sie fühlte sich bloßgestellt und als hilfsbedürftig und schwach betrachtet. Damit konnte sie in diesem Moment nicht umgehen, denn der Anstoß kam von außen!

2. Beispiel:
Meine Tochter ist sehr neugierig und möchte immer wieder zu den Meditationsgruppen, die zu mir kommen.
Für mich ist das in den Meditationspausen in Ordnung. Also besuchen wir beide oft die jeweilige Gruppe. Meine Tochter setzt sich dann regelmäßig auf meinen Schoß. Anfangs mit dem Gesicht an meiner Brust, doch allmählich setzt sie sich so, dass sie die Menschen beobachten kann. Ich bin ihre Rückendeckung, ihr Vasall. Sie benutzt mich.
Nur selten wagt sie es, sich ohne mich, unter die Menschen zu mischen.
Hier fordert sie meine Hilfe ein und bestimmt mein Verhalten. Ich darf mich von ihr nicht entfernen. Hier benutzt sie mich als Halt für ihre Unsicherheit. Das Nichtvermögen wie im ersten Beispiel stört sie in keiner Weise. Sie kompensierte ihre „Schwäche“ und Unsicherheit mit der „Macht“ über mich!

Mein Sohn (9 Jahre) verhielt sich im gleichen Alter genau wie meine Tochter. Doch mit etwa 6 Jahren ließ sein Interesse an den Gruppen nach. Anderes wurde wichtiger.
Die natürliche Omnipotenz geht in den nachfolgenden Jahren zurück und die Kinder müssen diese schwindende natürliche Omnipotenz mit Selbstbewusstsein ersetzen. Das ist natürlich sehr schwierig – vor allem für die Eltern –. Es erfordert von den Kindern ungeheure innere Kämpfe, denn gleichzeitig besteht ja der Drang, sich von den engen Bezugspersonen, die bis dahin der schwachen Seite Halt boten, zu lösen. So kommt es, dass ich oft zwei Söhne in ihm sehe:
Auf der einen Seite den „souveränen“ und auf der anderen Seite den hilfs- und anlehnungsbedürftigen Sohn. Beide Seiten haben in ihrem Verhalten kaum etwas miteinander zu tun. Das ist in seinem Alter noch ein völlig natürlicher Vorgang. In der Auseinandersetzung mit den Gleichaltrigen (Peergroups) wird diese entstehende Souveränität geschult.

Wenn aber diese beiden Persönlichkeitshälften bis zur Pubertät nicht integriert werden können (und das ist leider ziemlich häufig der Fall), so werden sie in der Person verschwinden und im Unbewussten ihr jeweiliges Reich aufbauen und aus dieser Tiefe das Verhalten der Persönlichkeit beeinflussen und steuern. Die Folge ist, dass eine narzisstische Persönlichkeit entsteht.
Da bei den Erwachsenen niemand mehr als Sicherheit hinter ihnen steht, flüchtet der Narzisst ständig vor seiner eigenen schwachen Seite. Er sucht die Stärke (Omnipotenz) in übertriebenem Aktivismus – in der Außenwelt also. Er erkennt nicht die Fluchttendenz darin. Er sieht Schwäche nicht als natürlichen Bestandteil des Lebens, sondern als Vernichtung. So wird sein Misstrauen immer stärker und seine Kontaktfähigkeit immer schwächer.
Schließlich bleibt ein innerlich vereinsamter Mensch übrig, der sich ständig darin verausgabt, dass er die anderen schlecht macht, um sich ein wenig Pseudosouveränität zu erhalten. Oder er flüchtet in die Macht. Sie ist der große Bruder der Omnipotenz. Gerade bei den Managern, bei den Politikern oder Vertretern der Religionen findet man diese Form der „Schwäche-Bewältigung“.

Aber worin liegt die Lösung?
1. Im Erkennen und Anerkennen des eigenen „mangelhaft“ Seins.
Jeder sieht in sich die Einmaligkeit. Jeder ist auch in seiner Individualität einmalig, doch viele vergleichen sich mit anderen. In diesem Vergleichen liegt für mich die Falle des Zerrissenseins in Schwäche und Omnipotenz, denn der Vergleichende will letztendlich besser sein als der andere.
Die Schöpfung ist immer mangelhaft, sucht aber die Vollendung und probiert alles aus, um sie zu erreichen. Das ist die Evolution. Im Versuch, und nicht im Muss, das Beste zu schaffen, liegen unsere Möglichkeiten.
Das müssen wir erkennen, akzeptieren und nicht nur intellektuell verstehen.

2. Die Lösung liegt auch im Erkennen, dass ich nicht von jedem gemocht oder geliebt werden kann. Dabei reicht es auch hier nicht, dies als intellektuellen Satz zu formulieren. Ich muss mit meinem Wesen erfassen, dass Ich nicht von jedem gemocht werden kann.
Wir müssen auf diesen Zwang nach Geliebt-werden achten. Ich darf den Drang nicht verdrängen. Ich darf ihn nicht als Ausrede benutzen. Ich darf mich nicht dazu überreden, sondern erkennen, dass ich es nicht nötig habe.

3. Es klingt vielleicht ein wenig seltsam, doch ich denke, in dem häufig benutztem Wort „man“ oder dem oft benutztem „Es hat nicht sollen sein“ und ähnlichen Begriffen und Sätzen, verbirgt sich diese Omnipotenz. Wenn ich „man“ sage, generalisiere ich meine Subjektivität und bestimme für alle mit. Das geht aber natürlich nicht.
Wenn ich die „Schicksal berufenen“ Sätze sage, ist entscheidend, ob das ganze Wesen sie spricht oder ob sich einfach ein Verdrängen oder Ausweichen vor der eigenen Verantwortung dahinter verbirgt. Ist Letzteres der Fall, so kaschiere ich damit meine Unzulänglichkeit.

4. Ich rette mich in meine eigene Omnipotenz und gehe aus dem Kontakt heraus. Gehe ich in Kontakt mit anderen, beziehe ich die anderen mit ein und „verliere“ meine Omnipotenz. Oder anders formuliert: Beziehe ich den anderen mit ein, gehe ich in den Kontakt, so gebe ich einen Teil meiner Macht ab oder verliere einen Teil der Macht. In diesem Moment bin ich frei.
Wenn wir aus dieser Identifikation mit der Omnipotenz heraus sind, sind wir frei.
Im Kontakt, dem Dazwischen (siehe Martin Buber) oder im echten Gespräch liegt die wahre, ursprüngliche Omnipotenz. „Zusammen“ sind wir im „Dazwischen“, das ist ein Stück Omnipotenz. Das ist, was Christus sagte: „Wenn zwei in meinem Namen zusammen sind…...“

5. Viele verlangen von sich, alles hundertprozentig zu machen. In der ganzen Natur gibt es nichts Hundertprozentiges. Diese Verpflichtung, es muss hundertprozentig sein, bringt die totale Erschöpfung.
Natürlich ist es wichtig, alles so gut wie möglich zu machen. Doch ich kann nur alles so gut wie möglich machen, wenn ich aus diesem Zwang, alles richtig machen zu müssen, heraus bin. Gerade aus dieser Haltung entsteht unendliches Leid und Erschöpfung.
Alles richtig machen zu wollen, perfekt zu sein, bedeutet, Macht zu beanspruchen, denn wir bestimmen dann, was richtig oder falsch ist.

6. Die Angst vor dem Verlust der narzisstischen Omnipotenz steht vielen Meditationsentwicklungen entgegen.

Die Religionen versuchen diesem Omnipotenzdrang den Glauben entgegenzusetzen. Gleichzeitig erreichen sie, dass die Menschen nicht in die absolute Hilflosigkeit und Sinnlosigkeit fallen.
Sie bieten den Menschen einen omnipotenten Hintergrund an (Gott, Buddha, Allah) auf den sie sich beziehen können. (Und wenn sich die Religionsgründer nicht dazu anbieten, so machen ihn die Gläubigen dazu, wie im Falle Buddhas.)
Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass der nicht verarbeitete Omnipotenzdrang zugreift und die eigene Religion zum absoluten Glauben erklärt wird und dadurch die anderen in die Nichtswürdigkeit zurückdrängt. Leider ist daraus eine Regel geworden.

Auch der Kapitalismus gehorcht diesem Drang und den daraus resultierenden Werten. Gerade im Management toben sich die Narzissten aus.
Leider ist die Menschheit erst auf dieser Ebene. Doch jeder für sich hat die Aufgabe, dies zu verändern, ohne missionarischen Eifer, denn der wäre wieder Ausdruck der Omnipotenz.
So ist für mich der Kapitalismus oder auch die gängige Politik, Ausdruck des krankhaften Narzissmus. Doch es geht anscheinend nicht anders.