Das Dilemma mit dem Nein – sagen
Fast alle Deutschen haben aus den unterschiedlichsten Gründen ein Problem mit dem Nein-sagen. Ich sage bewusst alle Deutschen, denn ich denke, dass diese krasse Form, die ich hier darlegen möchte, doch sehr deutschspezifisch ist. Ich meine hier nicht das Nein-sagen bei Diskussionen über Politik, wissenschaftlichen Meinungen usw., sondern das Nein-sagen, durch das die Persönlichkeit ihre Grenzen absteckt. Ich meine das Neinsagen in Beziehungen jeglicher Art.
Was geschieht denn beim Nein-sagen?
Eigentlich nur, dass ich dem anderen meine Grenze aufzeige und darstelle:
Ich bitte damit indirekt den anderen, diese Grenze zu erkennen und anzuerkennen.
Sind beide Partner von frühester Jugend an mit dieser Form vertraut, kann eine ideale Beziehung entstehen, denn beide
akzeptieren selbstverständlich, dass der andere eine eigenständige Persönlichkeit ist, mit all seinen positiven und
negativen Merkmalen.
Zu diesem Dialog gehört, dass jeder eine Grenzüberschreitung, sobald er sie empfindet, anspricht und so immer
sichtbarer für den anderen wird. Sichtbarer bedeutet hier auch vertrauter. Damit wächst ein umfassendes
Vertrauen in der Beziehung und nichts anderes suchen wir: Vertrauen gleich Geborgenheit. Geborgenheit bietet mir die
Möglichkeit, mich niederzulassen und zu regenerieren. Dann können wir mit neuer Kraft und gestärkt in die
Auseinandersetzung mit der Außenwelt treten.
Aber genau dieses Ideal ist leider sehr selten.
Wie kommt das? Zu dieser Frage könnte man natürlich mehrere Bücher schreiben, da die Artikel dieser Webseite nur als Anregungen gedacht sind, möchte ich mich kurzfassen:
Der Mensch kommt auf die Welt und hat von der Natur und seiner Anlage her den Auftrag seinen Platz in der Welt zu finden und zu erobern.
Der Umfang und die Grenzen des zu Erobernden sind ihm natürlich nicht klar. Er muss lernen sie zu erkennen. Das heißt, das Kind muss die Grenzen des Erwachsenen überschreiten, denn nur so kann es die eigenen Grenzen erkennen. Erkennen heißt hier erfahren. Das ist das, was die Erziehung für die Eltern so aufreibend macht.
Das Kind setzt voraus, dass seine Eltern reif genug sind, ihm an ihrer Grenze Einhalt zu gebieten = Nein sagen. Das Kind hat in sich die Aufgabe, dieses Nein zu überprüfen und somit dagegen zu rebellieren. Doch weiterhin steht der gereifte Erwachsene und sagt einfach = Nein. Kommt das Nein selbstbewusst und bestimmt, ist das Kind erleichtert, denn es hat dreierlei gelernt:
a) Es konnte sich selbst in seiner Begrenztheit erfahren und somit finden. Denn nur in der Begrenztheit kann ich mich als Ich definieren, die Unbegrenztheit ist maßlos und somit unendlich angstbesetzt.
b) Es hat erfahren, dass es in seiner Hilfsbedürftigkeit jemanden neben sich hat, der stärker ist und somit Geborgenheit und Schutz bietet. So kann es weiter den Weg der Ichfindung gehen (und somit zum Leidwesen der Eltern “nerven”).
c) Das Kind hat außerdem gelernt, dass das Nein-sagen zum sozialen Leben dazu gehört, dass es eine fundamentale Grundbedingung ist, dass das Nein-sagen zwar unangenehm ist, aber nicht verletzend oder schmerzend. Es lernt, den anderen zu sehen wie er ist. Das Kind wächst als toleranter Mensch heran, der die anderen und sich akzeptiert.
Wie kommt es zu den Fehlentwicklungen?
Hier die zentrale Aussage: Die Eltern sind nicht reif genug!!!
Wie kommt es zu dieser Nicht-reife?
Die Eltern haben in ihrer Kindheit durch unreife Eltern und andere Erwachsene seelisches Leid erfahren und somit
Verletzungen erhalten. Diese nicht erlösten Verletzungen verfälschen fundamental den Blick auf jede Situation und somit
auch auf die Situation, in der das eigene Kind mit Macht an ihre Grenzen stößt. Die Eltern erleben das Anstürmen als
eigene Verletzung und nehmen es persönlich. Somit wird in ihnen Macht mobilisiert, sie treten in einen Kampf ein, um
sich zu verteidigen und den Angreifer zurückzuschlagen. Damit dieser Kampf nicht wieder eintritt, besetzen sie zumindest
einen Teil des anderen Territoriums. Sie greifen in die Persönlichkeit des Kindes ein. Dieses Territorium kann nun vom
heranwachsenden Kind nicht mehr gelebt werden. Das Kind lernt, dass Macht eine fundamentale Größe im sozialen Leben
ist.
Es merkt natürlich halb- oder unbewusst, dass ihm etwas fehlt, dass es leidet. Diese Leid ist umso größer, je stärker
die Verletzung im Unbewussten vergraben ist. Sie wird schlimmstenfalls generalisiert = umfassend und alles andere
überdeckend. Das ist häufiger, als wir glauben.
Als späterer Erwachsener wird es sich immer so verhalten, als würden die anderen stets versuchen, dieses unbekannte
Gebiet und noch mehr zu besetzen. D. h. es wird als Erwachsener immer auf der Hut sein und in Verteidigungs- oder
Angriffsposition bleiben. Dies wird immer intensiver, je näher und dichter sich eine Beziehungentwickelt, - nach der es
sich selbstverständlich in der Tiefe unendlich sehnt.
Die Grenze A ist wie oben schon erläutert die Toleranz fördernde, Frieden- und Vertrauen schaffende Grenze.
Die Grenze B ist Leid, Macht und Schmerz erzeugende Grenze.
C wird dann vom Ich unbewohntes Gebiet.
Wie komme ich nun aus diesem Dilemma heraus?
Die Kindheit kann ich nicht ungeschehen machen. Somit muss ich bis zu meinem Lebensende mit diesem Schmerz leben!?
Nein!
Hier gibt es viele Lösungen. Die entscheidenste Lösung ist die Annahme, die für mich Grundvoraussetzung für jegliches
inneres Wachstum ist: Niemand kann mich verletzen!
Fühle ich mich verletzt, so habe ich mich aufgrund der oben erwähnten Erfahrung selbst verletzt. Nur ich selbst kann mich verletzen!!!
Nehme ich diese Grundaussage ernst, trenne ich die durch “andere” verursachte Verletzung innerlich von dem “Verursacher”
, gehe also nicht in den Angriff oder in die Verteidigung. Ich erlaube mir, dass die Empfindung des Schmerzes sich in
mir ausbreitet. Das ist sehr schmerzhaft und manchmal überwältigend, und erfordert viel Mut. Doch es ist immer heilend,
befreiend, in der Tiefe erlösend.
Ich möchte somit im Schlusssatz überspitzt formulieren:
Wer mich verletzt, ist mein eigentlicher Meister auf dem Weg der Selbstfindung. In der Bibel steht: “Schlägt mich einer
auf die rechte Wange, biete ich ihm die linke hin” und sage Danke!
Nur, vergesst das Nein-sagen nicht. Das gilt es in erster Linie zu lernen. Doch interessanterweise fällt das Nein-sagen
umso leichter, je mehr ich immer wieder die eben erwähnte Methode durchführe.