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Existentielle Angst

Wie im Eingangsartikel über die Angst beschrieben, ist sie für mich ein völlig natürliches und notwendiges Phänomen. Sie hat die Aufgabe, dem Lebenswillen eine entscheidende Komponente hinzuzufügen: Die Wachheit oder Präsenz und die Rück-sicht.
Der reine Lebenswille könnte das Wesen verführen, zu forsch, zu stürmisch, zu unbeherrscht sein Leben zu leben und es leichtfertig in Gefahr zu bringen. Der reine Lebenswille erkennt keine Grenzen, weder die eigenen noch die der anderen. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes überwältigend, fegt alle Grenzen hinweg, verführt uns, in fremde Gebiete einzudringen und erzeugt dort einen Gegensturm. Der Zusammenprall könnte tödlich sein. Für beide. Damit währe nichts gewonnen.

Die existentielle Angst macht uns vor-sichtiger. Wir tasten uns durch sie an unsere natürlichen Grenzen heran, tasten sie ab und erwägen auch die Grenzen der anderen. Aber gerade dadurch ermöglicht sie es uns, bis an unsere Grenze zu gehen. Wir werden eine ausgewogene, starke Persönlichkeit.
Die neurotische Angst gaukelt uns falsche Grenzen vor, so dass unser Blick verstellt ist. Die vorausgesetzten Komponenten für unsere Entscheidungen sind dadurch schon falsch. Somit ist eigentlich jede Entscheidung mit neurotischer Angst grundsätzlich falsch.
Die existentielle Angst verhilft uns erst zur richtigen Entscheidung, da sie den Blick auf die vorhandenen Komponenten nicht trübt, sondern schärft.
Da jede Entscheidung eine Befreiung ist, erlöst uns die existentielle Angst von dem Hin und Her, dem Abwägen, den Verwirrungen usw. Insofern hilft uns die existentielle Angst, uns frei zu machen und frei zu fühlen. Noch einmal: Sie hilft uns nicht nur, unsere Grenzen und die der anderen zu erkennen, sondern ermöglicht uns in Verbindung mit dem Lebenswillen, uns bis zu dieser Grenze auszudehnen.
So ist es erklärlich, dass nach neuesten Forschungen die Menschen der ärmsten Länder die glücklichsten sind. Sie leben in ihrem täglichen Überlebenskampf mit der existentiellen Angst und bleiben so, trotz der unsäglichen Armut, lebendig und frei, denn sie haben auch nichts zu verlieren.
Die Menschen der wohlhabenden Staaten verlieren im Laufe ihrer Jugend den Zugang zu der existentiellen Angst und bilden aus dieser Verdrängung heraus neurotische Ängste und nur diese machen unglücklich, denn sie leben in der Illusion, dass alles so bleiben kann wie es ist oder noch besser werden sollte.

Zur existentiellen Angst gehört unausweichlich eine Körperempfindung, d.h., wer kein sensibles Körperempfinden behalten oder wieder entwickelt hat, wird ihre Signale nicht erkennen und somit neurotisch reagieren.
Da unsere Meditationsarbeit in den ersten Jahren ihr Schwergewicht auf die Körperempfindung legt, ist sie gleichzeitig prädestiniert, uns mit der existentiellen Angst wieder vertraut zu machen. Gleichzeitig verlieren die neurotischen Ängste ihren Nährboden und die meisten verschwinden unmerklich. Die beständigen und aus alter Gewohnheit noch existierenden neurotischen Ängste sollten dann mit Hilfe einer Therapie angegangen werden. Da aber nun das Fundament mehr und mehr stimmt, hat dieser Vorgang in der Therapie nicht mehr seine beängstigenden Auswirkungen.