Wünsche, Leid, Tao
I. Am Anfang ist das Tao
Anfang bedeutet in dieser Hinsicht immer: ewig, weder Anfang noch Ende, jenseits von Zeit.
Deshalb sagen wir lieber: Der Urgrund lebt, existiert, ist Tao. Diese Bezeichnung gefällt mir besser als Gott usw. da sie unpersönlich ist. Aus einem unerfindlichen Grund “entspringen” aus dem Tao zwei Kräfte: Yin und Yang oder das Prinzip der Dualität. Das ist der Schöpfungsakt. Daraus entwickeln sich die unendlich Vielen; die Gestalten in jeglicher Form und Dimension.
Der Urgrund also ist das Tao, dessen Eigenschaft Existenz ist. Der rote Faden oder der “Ausläufer des Tao” ist das Bewusstsein, die Bewusstheit. Bin ich mir als Bewusstsein etwas bewusst, bin ich im Bruchteil einer Sekunde im Tao,
in der Ewigkeit, jenseits der Zeit. Wenn ich aber sage “ICH bin mir bewusst, dass die Sonne scheint”, ist dies nicht d a s Bewusstsein, denn der Fokus liegt auf Ich.
Der rote Faden oder “Ausläufer” des Tao ist also etwas anderes, als wir vom Ego aus verstehen können.
II. Das Prinzip der Dualität ist Bewegung
D.h. Yin und Yang sind nie ausgeglichen. Wären sie vollkommen ausgeglichen, gäbe es keine Dualität, keine Schöpfung, kein Yin und Yang, nur noch Tao.
Wir wissen alle in unserer Tiefe, dass da Tao ist. Als Ego wissen wir es aber nicht und suchen an falschen Orten. Da wir aber ahnen, was wir finden könnten, es aber da, wo wir es als Ego suchen, nie finden können, sind wir potentiell unglücklich. Unsere meisten Wünsche werden aus dem unbewussten Wissen geboren, dass es diesen Hintergrund, mit seiner absoluten Vollkommenheit, gibt. So kann man sagen: Das Wünschen selbst ist ein religiöser Akt: Es ist der Wunsch nach Rückbindung. Die einzelnen Wünsche aber sind Irrwege, da sie weder ihren Ursprung im Tao haben, noch auf das Tao gerichtet sind, sondern der Unkenntnis, dem Nichtwissen entspringen. Da aber n u r das Bedürfnis nach Tao erfüllbar ist, bringt kein einziger anderer Wunsch die Erfüllung, die wir suchen.
Daher stimmt der Spruch, dass jeder erfüllte Wunsch zehn andere gebärt. So kann man also sagen: Die Quelle unserer Wünsche ist richtig; die Objekte jedoch sind grundlegend falsch.
Auf eine wichtige Differenzierung möchte ich hier hinweisen: Als Menschen, die im Alltag leben, brauchen wir Orientierungen und Ziele, und das sind u.a. unsere Wünsche. Das eben ausgeführte Problem entsteht erst, wenn wir uns an unsere Wünsche binden und uns vom Erfüllen und Nicht-erfüllen unserer Wünsche in unserem Empfinden abhängig machen.
III. Das Tao ist in uns und wir sind in ihm
Da das Tao in uns ist und wir im Tao, gibt es kurze Momente, in denen wir eins mit dem Tao sind.
Wir erkennen aber dann das Tao nicht, denn wir identifizieren uns in diesem Zustand mit dem Ego: Dem “Ich habe das erlebt”. Wir erkennen nicht, dass wir in diesem Augenblick kein Ich im Sinne von Ego mehr waren, sondern Tao. Dann will das Ego dieses Erlebnis, das es eigentlich gar nicht hatte, da es dazu gar nicht in der Lage war, wieder haben. D.h. wir binden uns an ein Objekt und leiden. Aber wir machen nun die Situation oder Person verantwortlich, dass sie uns das, was sie uns einmal gegeben hat, nicht mehr gibt und gehen, wenn es die Partnerschaft ist, in die Bestrafung und reißen den anderen in unser Leiden mit hinein. Nun sind wir völlig getrennt vom Tao.
Kein Tier, keine Pflanze, kein sonstiges Wesen kann diese Distanz erleben, nur der Mensch. Daher ist das Leiden dem Menschen immanent. Dem liegt aber die Erlösung schon zu Grunde.
Wir brauchen nur diesen fundamentalen Irrtum zu erkennen und uns in die andere Richtung bewegen. Auch das kann kein anderes Wesen. Das Leid liegt also nicht in der Schöpfung begründet, sondern in der Freiheit, den Urgrund zu suchen und der Möglichkeit, ihn zu finden oder ihn zu verfehlen. So kann man wirklich sagen, dass im größten Leid die größtmögliche Gelegenheit verborgen ist, die Sicht zu ändern. Satprem: “Das Problem, das uns nicht weiter bringt auf dem Weg zurück, muss erst noch gefunden werden.”
Das Hauptproblem liegt nicht in unseren Problemen, sondern in unserer Trägheit und Unwissenheit, eine neue Richtung einzuschlagen, eine Änderung der Sicht zu schaffen.
Die Einzigartigkeit des Menschen liegt in der Fähigkeit:
vollkommen aus dem Tao herauszutreten und
es erreichen zu können.
Wenn wir dieses Paradoxon erkannt haben und den Mut haben, uns diesem Paradoxon zu stellen, sind wir im Tao.
Die naturgegebenen, gelernten und erworbenen Mechanismen behindern uns dabei. So dass es unsere Aufgabe ist, diese Mechanismen aufzulösen, uns als bewusste Wesen zu erleben und dann den Sprung zu wagen. Dieser Sprung geht nie als Ego, als Dualität im Vielen, sondern nur im S E I N lassen:
Im “Uns im Sein zu lassen und uns als Sein zu genügen.”