Wie Oben So Unten

Die Änderung der Sicht oder Tun ohne zu Tun

Ich habe 13 Jahre lang nicht nur an vielen Gruppenmeditationen sondern auch in Einzelstunden meine Meditationslehrerin Hetty Draayer besucht. In dieser Zeit hörte ich sehr oft den Ausspruch: „Du bist wieder im "Denkenden Ich".“ Ich war schon ganz verzweifelt, aber auch wütend auf sie. Ich konnte nach einiger Zeit diesen Satz nicht mehr hören, denn ich wusste nicht, was sie damit meinte.
Nun war ich schon so fleißig und übte fast rund um die Uhr. Ich hatte mich in der Schule freistellen lassen. Ich lebte sozusagen nur noch für die Meditation und dann solch ein Satz!
In den Meditationsphasen bei ihr war striktes Schweigen geboten, und ich hielt mich auch daran. Ich bemühte mich intensiv, nicht zu denken und fühlte mich oft ganz dumpf. Der Ehrgeiz, das Denken aufzugeben, hatte mich gepackt. Trotzdem blieb sie bei diesem Satz.

Irgendwann hörte sie damit auf, doch ich bemerkte es nicht.
Im Rückblick kann ich heute sagen: In mir hatte sich in dieser Zeit etwas geändert. In Therapiesituationen als Therapeut wanderten die Gedanken nicht mehr ab. In den Konferenzen in der Schule konnte ich in der Empfindungsebene bleiben und trotzdem hören, was um mich herum geschah. Doch ich wurde nicht mehr von den Situationen eingefangen. An Wochenenden mit Gruppen, die zu mir kamen, war kein Ehrgeiz mehr da. Wenn ich von anderen verbal angegriffen wurde, fand kaum eine Reaktion in mir statt.
Allmählich dämmerte mir, dass ich nicht mehr der Rudi war, den ich „kannte“, und doch hatte ich nichts Außergewöhnliches in mir bemerkt oder erlebt!

Was war geschehen?
Ich versuchte, dem Ganzen nachzuspüren.
Das einzige, was sich geändert hatte, war mein Ehrgeiz. Ich übte nicht mehr zielorientiert. Ich übte einfach.
Ich sah nicht mehr nach außen, ich schaute. Unter Schauen verstehe ich -im Gegensatz zum Sehen-, dass wir die Dinge auf uns zukommen lassen und sie betrachten. Beim Sehen wandert unsere Aufmerksamkeit zu den Dingen hin.
Ich hörte nicht mehr, ich horchte.
Ein Beispiel zum Hören: Ich lag in meiner Wohnung auf dem Teppich und übte (meditierte). Plötzlich hörte ich ein brummendes Geräusch. Es war der Lärm eines Flugzeuges. Ich sah in meiner Vorstellung das Flugzeug sehr klar vor mir. Fast bildhaft erschienen mir die Passagiere und mir war klar, die fliegen in die Karibik! – Welch ein Unsinn, das konnte ich doch gar nicht wissen. Doch genau diesem Unsinn unterliegen wir tausend Mal während eines Tages. In uns flammt dann ein scheinbares „Wissen“ auf, und wir lassen uns von diesem „Wissen“ leiten. Doch dieses vermeintliche Wissen ist nur eine Vor-Stellung. Das ist ein unbewusster Prozess, um unserem Leben eine Ordnung zu geben: unsere Ordnung. Wir leben dann wie im Zentrum eines Koordinatenkreuzes. Wir bestimmen die Koordinaten durch unsere Sichtweise.
Sind wir fähig zu horchen oder zu schauen, stellen wir die Sinne auf Empfang, dann hat sich das Koordinatenkreuz aufgelöst. Nur ein „Zentrum“ ist noch da: der Horchende und Schauende, sonst nichts.

Auf die Meditationsübungen bezogen,
fand folgende Wandlung statt:

1. Aus zielorientiertem Üben wurde ein Üben um des Übens willen.
2. Aus dem vom Willen gesteuerten Üben wurde Lernen.
3. Aus diszipliniertem Üben wurde Gewohnheit.
4. Aus ehrgeizigem Üben wurde einfaches Sein.

Dieser Wandlungsprozess verlief so schleichend, dass ich ihn bewusst nicht mitbekam. Ich behaupte seitdem sogar, dass man ihn nicht wahrnehmen kann und darf. Solange man darauf wartet, kann er gar nicht stattfinden, denn dann ist man zielorientiert, ehrgeizig, usw.
Warum also dieser Artikel? Ich möchte dazu ermuntern hier weiter zu üben oder zu meditieren, auch wenn wir keine „Erfolge“ wahrnehmen.

Ist man noch an die ersten Kriterien gebunden, sind wir auf dem Weg zum Weg. Danach beginnt erst der Weg.
Seit dieser Erfahrung -schleichender Wandlungsprozess- wurde mir klar, dass der Weg zum eigentlichen Weg ein Leben lang andauern kann, wenn sich die Sicht nicht ändert. Doch die Sicht kann nicht über den Willen geändert werden, auch und gerade, wenn man verbissen und ehrgeizig ist.

Man sollte diesen Hinweisen auch nicht entnehmen, dass man einfach nicht mehr üben muss, um die innere Befreiung zu erlangen. Denn ohne das Üben findet keine Befreiung statt. So kommt es, dass wir mit einem Paradoxon leben müssen. Wir müssen uns diesem Paradoxon ausliefern. Die Verzweiflung, die aus ihm entsteht, ist die tatsächliche Kraft, die uns als Pforte vom Weg zum eigentlichen Weg dient.

Jeder Mensch wird hier an den Grundfesten seiner Persönlichkeit erschüttert. Der selbstgerechte, der prahlerische, der sich minderwertig fühlende, der beschauliche, der eitle, der an sich selbst zweifelnde Mensch wird jeweils in dieser Umbruchphase mit seiner Grundeinstellung zum Leben besonders hart konfrontiert.

Der entscheidende Schritt kann nur mit dem Einstellungswechsel geschehen: Zu sehen, was in mir ist, ohne etwas verändern zu wollen.
Wenn man etwas verändern will, dann sieht man, dass man etwas verändern will. Wenn man durch das eben aufgezeigte Wissen nicht will, dass man etwas verändern will, sieht man auch das.

Beispiel:
Die Eitelkeit und der chassidische Priester:
Es gibt eine wunderbare Geschichte bei Martin Buber über einen chassidischen Priester, der wusste, dass die Eitelkeit die letzte Hürde auf seinem Weg war. Um sich nicht der Eitelkeit auszuliefern, nahm er nie einen Schüler an.
So stellte er sich nie der Eitelkeit. Die Angst vor ihr nahm ihm die Möglichkeit sie zu überwinden.

Noch ein Gedanke dazu: Sind die Meditierenden an diesem Scheideweg angekommen, bleibt dem Meditationslehrer nichts anderes übrig, als die Menschen immer wieder an dieses Paradoxon heranzuführen und sie mit diesem Paradoxon zu konfrontieren. Der unerschütterliche Humor und die Geduld des Meditationslehrers sind hier die entscheidende Kraft.