Wie Oben So Unten

Chaos und Gestalt

Fast jeder Klient kommt mit dem Entschluss in die Therapie, seine Problematiken „weghaben“ zu wollen und das sehr schnell (mir ging es zu Beginn meiner Therapien genau so).
Das ist verständlich!
Doch die Klienten übersehen einen wichtigen Faktor: Die Problematiken, die ihnen Schwierigkeiten bereiten, haben zwar eine Gestalt, aber (als Problematik) keine wirkliche Substanz.

Ein Bild dazu:
1. Stufe: Einen alten Spiegel kann man wegwerfen. Dieser Spiegel ist dann zwar aus den Augen, doch er existiert noch. Selbst wenn er entsorgt würde, die verschiedenen Teile blieben noch erhalten. Nur die Gestalt des Spiegels existiert nun nicht mehr.
2. Stufe: Diese Teile können wir nun noch stärker verändern und aus diesen materiellen Grundsubstanzen können neue Formen gebildet werden: Der Eisenrahmen kann zum Hammer werden. Theoretisch könnte man auch wieder einen neuen Spiegel daraus herstellen: Aus dem scheinbaren Chaos der Substanzen entstünde dann die gleiche oder eine andere Form, eine andere Gestalt.
3. Stufe: Letztendlich wissen wir aus der Physik, dass nichts verschwindet. So können wir aus den Grundsubstanzen der 2. Stufe auch energetische Zustände herstellen. Diese „energetische Substanz“ bleibt immer erhalten. Wir können somit aus diesen energetischen Substanzen völlig neue und andersartige Gestalten erzeugen. (Z.B aus den Nachlässen der Urtiere Kunststoff in jeglicher Form).

Den gleichen Prozess können wir auf alle menschlichen Problematiken übertragen.
(Wir können in den folgenden Stufen jede andere Problematik, die uns gerade bewegt, einsetzen. Ich habe spontan den Neid genommen.)

1. Stufe
Nehmen wir das Beispiel des Neides: „Allen geht es besser als mir! Was bin ich doch schlimm dran!“ Diesen Neid können wir als Gestalt bezeichnen. Nun versuchen wir, ihn in seine groben Grundsubstanzen zu zerlegen:

I. Mental – feste Wertvorstellungen, Normen
Psychisch – Trauer, Wut, Schmerz
Körperlich – Verspannungen, Übersäuerung
Feinstofflich – stockender Energiefluss

II. Wir können die Gründe eruieren: Mangelerscheinungen verschiedenster Art in der Kindheit, nicht verarbeitete Enttäuschungen, usw.
Das Zerlegen und Eruieren hilft uns vor allem zu erkennen, dass unser Neid seine Gründe hat zu existieren. Dies erzeugt einen Abstand zum Neid, es erleichtert ein wenig, doch die potenzielle Gestalt des Neides verschwindet damit nicht.

2. Stufe
Wir können beobachten in welchen Situationen sich die Gestalt des Neides in uns bildet. Es geschieht sicher nicht, wenn wir verliebt sind. Es geschieht auch nicht, wenn wir gerade ein Erfolgserlebnis hatten. Es geschieht sicher weniger bei sommerlichem Sonnenschein, sondern eher während eines Herbstregens.
Die Frage lautet also: Wie sieht mein Gesamtzustand, meine Befindlichkeit aus, wenn sich in mir die Gestalt des Neides bildet?
Ich bin mir sicher, dass in der übrigen Zeit der Neid nicht existiert. Er ist in seine Grundsubstanzen zerlegt (3. Stufe oben). So könnte auch eine völlig neue Gestalt aus der freigewordenen Energie entstehen: z.B. Bewunderung. Wir brauchen uns in dieser Zeit nicht um den Neid zu kümmern. Doch genau hier beginnt die Schwierigkeit. Viele, die es stört, dass sie neidisch sind, lässt die Erinnerung nicht zur Ruhe kommen. Die Erinnerung in Kombination mit dem „schlechten Gewissen“ erzeugt aus den als Chaos (Nichtgestalt) existierenden Substanzen die Form des Neides. Wir erkennen dann nicht mehr, dass es nicht der echte Neid ist, der uns zerfrisst. Es ist ein konstruierter Neid. Doch seine Wirkung ist verheerender als der echte Neid, denn er lässt uns nicht mehr los. Das Gedächtnis liefert ständig das Material dafür. Jetzt droht eine Fixierung.
Das Dilemma hierbei besteht darin, dass Gedächtnis, Psyche, Körper und feinstoffliche Ebene nur im Jetzt existieren. (Nur der Inhalt des Gedächtnisses erzählt von der Vergangenheit.) Diese Bereiche in uns reagieren immer so, als würden die oft Jahre oder Jahrzehnte zurückliegende Verletzungen, aus denen die Problematiken entstanden sind, jetzt geschehen.
Das hat allerdings auch seine Vorteile, denn erkenne ich dies an, so kann ich nun mit der 3. Stufe an die Wurzel meines Übels vordringen.

3. Stufe
Die dritte Stufe ist leider nur für die Menschen nachzuvollziehen oder selbstverständlich, die wenigstens eine Ahnung von unserem Dasein auf der feinstofflichen Ebene haben. Viele haben diese Ahnung, ohne es zu wissen. Sie spüren dann nur, dass in ihnen etwas geschieht, das ihnen fremd ist oder sogar angst macht. Die wenigsten reden in unserem Kulturkreis über diese Befindlichkeiten, denn sie fürchten, für verrückt erklärt zu werden.

Was geschieht dann in uns?
Auf jeden Fall spüren wir, dass viele Schwingungen in uns aktiv sind. Sie scheinen sich selbständig gemacht zu haben. Wir sind nicht fähig, sie zu kontrollieren. Wir können sie höchstens verdrängen, doch im Hintergrund rumoren sie weiter. Wir können sie auch räumlich lokalisieren: „Mir ist oft so schlecht.“ „Manchmal schwindelt es mich.“ „Ich habe hin und wieder Bauchschmerzen.“

Wer sich mit den Energieströmen seines Körpers vertraut gemacht hat, wird verstehen, was ich hier meine. Dies ist die Ebene der energetischen Substanzen, was in Meditationskreisen als „Energie“ bezeichnet wird.
Habe ich mich darin geschult, diese Ebene wahrzunehmen und zu beobachten, so verliere ich mich nicht im Kampf mit Gestalten sondern verweile an ihrer Wurzel. Gebe ich diesen Schwingungen dann in mir den Raum, sich auszutoben, kann sich die Gestalt der jeweiligen Problematik (hier Neid) nicht bilden. Ich sollte also immer wach an dieser Pforte stehen.

Nun möchte ich einen entscheidenden Hinweis geben:
Wenn normalerweise meine Grundsubstanzen (Energie, Schwingung) in den Problematiken (und der Auseinandersetzung mit ihnen) gebunden bleiben, so stehen mir nun (als Gesamtpersönlichkeit), die ehemals als Gestalt gebundenen Energien, als freie Kraft, zur Verfügung. Sie sind nun die Basis, aus der heraus ich kreativ und spontan in die Auseinandersetzung mit meinem Innersten und meiner Umwelt gehen kann.
Und noch etwas: Die schmerzhaften Verletzungen aus der Vergangenheit lösen sich manchmal schmerzhaft, oft aber auch unmerklich, auf. Doch selbst die, die sich nicht auflösen, haben dann nicht mehr die Macht mich zu beherrschen. Ich brauche mich somit nicht mehr in der häufig hektischen Suche nach Füllung der inneren Leere im Außen zu erschöpfen. Ich lebe in der Fülle.
So werde ich mich auch nicht im oft endlosen, schmerzhaften Kampf mit meinen „Unzulänglichkeiten“ erschöpfen.

Nun haben wir das Chaos (die Nichtgestalt) als unser Wesen entdeckt, und somit verändert sich unsere Lebenseinstellung grundsätzlich. Wir erkennen, dass das vermeintliche Chaos in uns die Fülle unseres Seins ist. Es ist die große Leere (FÜLLE) der Nichtgestalt (des SEINS).
Unsere Angst vor dem Chaos in uns, ist demnach nur die Angst vor jeglicher Veränderung. Es fehlt nur das Wissen, das im vermeintlichen Chaos unser Urzustand verborgen liegt.