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Das ewige Klagen

Wir müssen uns auch auf unserem Weg mit dem "Problem" des "Sich-gut-fühlens" und "Sich-schlecht-fühlens" auseinandersetzen. Wenn wir uns und andere beobachten, so entdecken wir ein Phänomen, das eigentlich sehr verblüffend ist: Fragt man jemanden, dem es gut geht, so antwortet er gewöhnlich: " Mir geht es gut. Wie geht es Dir?" Mehr wird nicht darauf eingegangen. Fragt man jemanden, dem es schlecht geht, so kann es vorkommen, dass er bis ins Detail genau erklärt, warum es ihm schlecht geht.

Warum diese Diskrepanz?
Die Lösung ist natürlich einfach. Man freut sich über sein Wohlbefinden, aber versucht sich genau mit dem "Sich unwohl fühlen" auseinander zu setzen, mit dem Ziel, dieses Unwohlsein in den Griff zu bekommen: es zu begreifen und somit aufzulösen. In diesem Muster verbirgt sich jedoch eine große Gefahr.
Wir gewöhnen uns an diese Diskrepanz und merken nicht, dass wir uns mit den Jahren wesentlich intensiver dem "Sich schlecht fühlen" zuwenden und das "Sich gut fühlen" so selbstverständlich empfinden, dass wir es nicht mehr beachten. Unsere Sicht verändert sich unmerklich und wird neurotisch.
Aus Gewohnheit beschäftigen wir uns also viel intensiver mit den negativen Seiten unseres Lebens, bis wir nur noch die negativen Seiten sehen. Schlimmer noch, wir können nur noch die negativen Seiten sehen. Die Steigerung davon wäre dann, auch relativ gute Situationen werden ins Negative verkehrt und übersteigert. Die Welt und somit die Lebenseinstellung wird vom Mentalen her neurotisiert.

Das wird sehr deutlich, wenn wir mit älteren Menschen ins Gespräch kommen. Wenn das Wetter gut ist, erwähnen sie es vielleicht mit einem Satz und kommen dann auf ihre Krankheiten zu sprechen. Ist das Wetter schlecht, reden sie natürlich länger darüber und begründen schnell, warum ihre Krankheiten durch das schlechte Wetter schlimmer geworden sind. Dass die Krankheiten bei gutem Wetter besser werden, fällt ihnen nicht ein. Diese Sicht ist ihnen abhanden gekommen, oder sie war nie da.

Besonders bei Therapien fällt mir auf, dass die Menschen glauben, sie müssten immer ein Problem mitbringen, dass sie dem Therapeuten anbieten. Haben sie kein Problem, brauchen sie keine Therapie. Das ist zwar verständlich, doch übersehen diese Menschen, dass viele moderne Therapieformen das Ziel haben, uns von grundsätzlichen Problematiken zu befreien:
der negativen Sicht.

Man könnte dies sogar verstärkt ausdrücken:
Diese Therapieformen versuchen, uns von der Sucht zu befreien, dem Negativen einen größeren Stellenwert im Leben einzuräumen als dem Positiven. Letzte Woche beendete eine Klientin ihre Therapie, indem sie auf meinen Anrufbeantworter sprach: "Ich glaube ich könnte die nächste Therapiestunde nicht mit Problemen füllen. Darum will ich erst einmal mit der Therapie aufhören." Ein seltsamer Abschied!

Wie stark die Sucht nach Negativem ist, können wir auch in den Filmen und den Nachrichten verfolgen. Überall Probleme, überall Katastrophen, überall Unfälle, überall, überall, überall. Selbst viele wissenschaftliche Sendungen beinhalten Bedrohliches. Wird etwas Angenehmes - oder nennen wir es schlicht "Gutes"- dargestellt, wirkt es schnell kitschig auf uns. Es wird belächelt. Man sucht einen anderen Kanal. Die staatlich kontrollierten kommunistischen Sender versuchten, das Positive darzustellen, um die Menschen zu motivieren. Natürlich wurde dies propagandistisch überzogen. Aber nicht nur deshalb wurde diese Einstellung von den Westlern belächelt. Genug der Beispiele.
Ich habe mich immer wieder gefragt, warum dies so ist. Ich denke, es liegt eine von der Natur eingepflanzte Tendenz dahinter. Ich vermute, dass dies aus der Zeit kommt, in dem das Vorratsammeln noch nicht bekannt war. War man satt, pflegte man der Muße. Aktion und Muße wechselten sich ab.

Übertragener Lerneffekt:
Ich schaue auf das Negative. Die Sicht auf das Negative dominiert. Durch die Auseinandersetzung mit dem Negativen kann ich für das Überleben viel lernen; während der Muße (dem Sich-Gut-Fühlens ) nicht.

Neurotische Variante:
Ich sehe nur das Negative.
Geht es uns gut, fühlen wir uns gut, so fallen wir in Trägheit. Wir bleiben nicht wach und verlieren eventuell das Gespür für Gefahren. Um wach zu bleiben, müssen wir Negatives einblenden, uns auf potenzielle Gefahren einstellen.
Diese ursprüngliche Tendenz wird nun zur treibenden Kraft.

Viele Religionen sehen dieses Phänomen. Doch sie verkleiden es in Dogmen.
Zum Beispiel:
Das Gebot der Armut. Mönche dürfen nichts besitzen. Eigentlich ganz einfach: Besitze ich nichts und wünsche mir nichts, bin ich frei und habe keine Probleme. Die Sicht auf die Außenwelt reduziert sich, und es bleibt genügend Zeit, sich mit seinem Innersten auseinander zu setzen. Das Problem liegt allerdings jetzt in den Bedürfnissen der drei Ebenen: Körperlich, psychisch und mental.
Ich habe vor einigen Jahren oft einige Tage gefastet. Ich war überrascht, wie intensiv und nachhaltig ich mich, aus einem inneren Zwang heraus, während des Fastens mit dem Essen auseinander setzte. War Essen in der übrigen Zeit kaum in meinen Gedanken, so wurde es in der Fastenzeit übermächtig. Das ist doch eigentlich verrückt.
So habe ich für mich entdeckt, dass es unsinnig ist, sich Dogmen aufzuerlegen. Die eigentliche Problematik liegt in dem Umgang mit dem Phänomen Bedürfnis. Wir müssen lernen, unsere Bedürfnisse und Bedürftigkeit zu erforschen. Wir müssen sie sehr ernst nehmen und deren Auswirkungen auf unsere Befindlichkeit wahrnehmen und beobachten. Je ehrlicher und klarer wir damit umgehen, desto unabhängiger werden wir. Die Bedürfnisse und die Bedürftigkeit beherrschen uns dann nicht mehr aus dem Unbewussten. Wir können dann "frei" entscheiden, ob wir ihr nachgeben oder nicht.
Um sich zu testen, reicht es, sich vorzunehmen, einen Tag nur Reis zu essen. Dabei kommen wir mit unglaublich vielem in Kontakt.

Beispiel beim Essen:

1. Welchen Reis nehme ich? (Mental)

2. Alles muss "gut" schmecken!
Ärger über den schalen Geschmack! (Emotional)

3. Wann kommt der Hunger? Wann bin ich satt!(Körperlich)
Jeder kann sich nun seine Forschungsbereiche aussuchen.

Resultat:
Fundamentale Bedürfnisse und Werte werden wieder neu entdeckt und brauchen sich nicht mit Hilfe von Übertragungen (falsche Ziele), Projektionen (die anderen sind an meinem Unwohlsein schuld) oder Wünschen (Ersatzbefriedigung) verfälscht melden. Wir werden echter, natürlicher und somit ausgeglichener.
Diese Methode kann man auf unendlich viele Bereiche übertragen:
Auf den Umgang und der Auseinandersetzung mit Krankheiten, Wünschen, Hoffnungen, auf die Politik, Kapitalismus, Sozialismus, auf die Arbeitssituation, auf Familie, auf Freunde und, und, und.