Alle Menschen, die sich etwas intensiver mit sich oder anderen beschäftigen, benutzen immer wieder das Wort "Selbstbewusstsein". Dieser hat ein großes, kleines, schwaches; jener ein starkes, übersteigertes, geringes Selbstbewusstsein. Gerade Lehrer benutzen dieses Wort in vielen Elterngesprächen. Aber was meinen wir mit diesem Wort? Es kommt so locker über die Lippen, als würde es eine feste Größe sein: Der Mann ist mit seinen 1,89 m größer als die Frau mit ihren 1,67 m.
Ich möchte hier aus meiner Meditationserfahrung einmal versuchen, dieses Wort zu durchleuchten!
1. Meister Eckehard:
Das Selbst ist Dir näher als jeder Gedanke!
Ist Selbstbewusstsein das Bewusstsein vom Selbst? Eigentlich schon! Da das Selbst
unzerstörbar ist und aus ihm alle Gestalten entstehen und in ihm wieder
vergehen, wäre das Angeschlossensein an dieses Selbst die höchste
Form des Selbstbewusstsein. Aus diesem Selbstbewusstsein heraus konnte Sokrates
den Giftbecher nehmen. Aus diesem Selbstbewusstsein heraus konnten sich die
Märtyrer "opfern".
Dieses Selbstbewusstsein wird im Alltag sicherlich nicht gemeint sein. Aber
welches dann?
2. Da gäbe es das Selbstbewusstsein des Wirtschaftsbosses oder
Politikers!
Sie wissen, was sie wollen (oder tun so, als wüssten sie es) und
haben genug Durchsetzungskraft und Ehrgeiz, ihre Ziele zu erreichen. Aber was
ist ihr Ziel? Im positiven Sinne, eine Firma oder den Staat weiterzuentwickeln.
Im negativen Sinne, zu herrschen. Selbst in der positiven Auslegung liegt der
Machtfaktor auf der Hand. Das bedeutet, wenn ich rücksichtsvoll oder rücksichtslos
Macht ausübe, habe ich ein großes Selbstbewusstsein. Hier ist es
also an die Macht gebunden.
Am selbstbewusstesten wäre dann der Diktator, der absolutistische Herrscher.
3. Punkt 1. und 2. widersprechen sich vollkommen.
Ich kann sie nicht auf einen Nenner bringen. Also suchen wir weiter!
Da ist der Jugendliche, der in der Schule gute bis sehr gute Noten schreibt.
Da ist der andere Jugendliche, der in seinem Notendurchschnitt um ein ausreichend
kreist. Ersterem könnte man auf die Leistung bezogen ein gutes Selbstbewusstsein
bescheinigen und das hat er sicher auch; letzterem nicht. Nun ist letzterer
dank seiner Persönlichkeitsstruktur bei den Mitschülern gut angesehen,
ersterer aber nicht. So kommt es, dass der schlechte Schüler im Kreis seiner
Mitschüler ein gutes, der bessere Schüler ein schlechtes Selbstbewusstsein
hat.
Dies könnte ich jetzt auf jede Situation übertragen.
Der Schluss, den ich daraus ziehe: Das sogenannte Selbstbewusstsein ist abhängig
von dem Bezug des Einzelnen auf die Normen und Werte seines Umfeldes. Es ist
abhängig davon, an welchen Normen- und Wertekatalog er sich anschließt
und wie er diese innerlich sowie äußerlich vertritt. Es ist also
ein gruppendynamisches Phänomen.
4. Nun gehen wir in eine Therapiesituation.
Das sitzt ein Klient, dem es in bestimmten Situationen übel wird
oder der dann Schweißausbrüche bekommt. Er sagt: "Das will ich
nicht mehr." (siehe 2.) Mit diesem Ausspruch versucht er meistens einen
Verdrängungsmechanismus zu aktivieren. Er will dieses Reaktionsmuster loswerden
und das heißt, beherrschen. Damit ist die Ursache nicht behoben.
Jetzt beginnt die eigentliche Kunst: Der Therapeut muss ihm helfen, dieses Reaktionsmuster
als Pfad zur Ursache hin zu nutzen. Jetzt beginnt eine spannende Arbeit. Jedes
Mal, wenn er nun Schweißausbrüche bekommt, oder ihm übel wird,
kann er sich auf den Pfad begeben und sich der Ursache nähern. Hat man
das verstanden, ist jede neurotische Situation, die man erkennt, ein Geschenk,
näher "an sich selbst" zu kommen. Man wird sich selbst bewusster.
Wohl gemerkt: Hier ist nicht die Lösung der Ursache gemeint. Hier ist die
Akzeptanz gemeint, dass die neurotischen Erscheinungen meine Freunde sind, die
mich an die Hand nehmen und mich zu "mir selbst" führen. Derjenige,
der über seine Verdrängungsmechanismen diese neurotischen Erscheinungen
in den Griff bekommt, hat diese Chance nicht.
Das Sehen, Zulassen und Akzeptieren von "Schwächen" ist das eigentliche
Selbstvertrauen und führt uns zum eigentlichen Selbstbewusstsein. Hier
schwindet die Angst vor den Unwägbarkeiten des Unbewussten in uns. Schritt
für Schritt erschließen sich die unbewussten Mechanismen und treten
ins Bewusstsein. Sie beherrschen uns somit nicht mehr. Wir werden "Uns-selbt-bewusster".
Wir werden selbstbewusster, denn die Angst vor dem nicht Gekanntem in uns, vor
dem Verdrängtem, schwindet.
5. Dann kommt der für mich eigentliche Schritt!
Wir entdecken mit der Zeit, dass es in uns eine Basis gibt. Ich nenne
sie Empfindungsbewusstsein. Auf der Ebene des Empfindungsbewusstseins lösen
sich alle Gestalten der Persönlichkeit auf. Was "übrig"
bleibt, ist das "Ich bin, und das reicht". Ich bin nicht der oder
das, nicht dieses oder jenes, Ich bin. In diesem "Ich bin" liegt mein
eigentlicher Wert. In dieser Ebene bin ich keinem unterlegen, aber auch keinem
überlegen. Ich brauche um keine Anerkennung mehr zu kämpfen, mich
daran zu orientieren und zu messen. Ich bin, und das reicht. Bekomme ich dann
Anerkennung, freue ich mich. Wird mir Anerkennung verwehrt, leide ich, aber
es schmälert nicht meinen Wert. Freude und Leid sind dann Phänomene,
die außerhalb dieser Basis des "Ich bin" geschehen, an denen
"Ich" zwar beteiligt bin, die mich aber in meiner Basis nicht erschüttern
können.
6. Ausklang:
Diese Basis ist die "Nüchternheit" selbst. Hier gibt
es keine Vor-Stellungen. Keine anmaßenden Ziele. Ich sehe die Außenwelt,
wie sie ist, ich sehe die Innenwelt, wie sie ist. Ich kann dann in der Meditation
in die Vertiefungen gehen, aber ich erkenne diese als Vertiefungen, als Außenwelt.
Dies eben nur auf der "anderen Seite". Ich blähe mein Selbst
durch das Erlebnis in den Vertiefungen nicht auf. Das ist nicht mehr Not-wendig,
nicht mehr nötig.
Ich habe das eigentliche Mensch-Sein -mein menschlich sein- erlangt.
Um dieses zu "erreichen", gehört neben den Meditationsübungen,
die ich mehr und mehr auf dieser Webseite vorstellen werde, eine entscheidende
Voraussetzung: Ich muss bereit sein, meine Sicht zu ändern. Ich muss bereit
sein, eine andere Form der Sicht auf das "Ich-Selbst-Sein" anzuerkennen.
Letztendlich kommt es nur auf diese Änderung der Sicht an. Sie entscheidet,
ob ich diesen Sprung wage.
Ein tibetischer Meister:
"Ich habe nie meditiert -geübt-, aber ich war nie außerhalb
der Meditation!"