Wie Oben So Unten

Scham und Schuld

Zwei Aspekte, die uns angeboren sind, werden bei der Selbstfindung oft übersehen: Es ist die Fähigkeit, sich zu schämen und sich schuldig zu fühlen.

Für mich gehören sie zu den Ursachen der Verdrängungs- und Übertragungsphänomene. Sie sind also „schuld“, dass wir so häufig in der Beurteilung von Situationen falsch liegen.

Scham und Schuld in der Verdrängung

Gerade bei Männern fällt mir dies besonders stark auf. Da es Männer oft wesentlich schwerer haben als Frauen, mit ihren Gefühlen und Emotionen in Kontakt zu treten und sie zu integrieren, verdrängen sie diese stärker als Frauen und hier insbesondere die Scham. Da sich das Verdrängte jedoch unbewusst weiter an unserem Handeln beteiligt, sind die Männer oft in ihrem logischen Denken eingeschränkter, als sie wahrhaben wollen. Anders ausgedrückt: Die verdrängten Emotionen versuchen sich stets ins Bewusstsein zu drängen. Da sie aber aus Unwissenheit nicht zugelassen werden, beeinflussen sie uns unbemerkt. Somit bestimmen sie die Funktionsweisen des Gehirns stärker, als wir glauben. D. h., das Gehirn produziert Vermeidungsgedanken. Normalerweise erkennen wir nicht, dass das Gehirn selbständig, vom Gedächtnis inspiriert, Gedanken produziert. Das ist als Hilfsorgan der Persönlichkeit seine Aufgabe. Somit glauben wir, es seien „unsere“ Gedanken und ziehen fehlerhafte Schlüsse! Da es den anderen Menschen genauso geht, entstehen unendlich viele Irrtümer und die daraus resultierenden Auseinandersetzungen.

Die Frauen wiederum haben nach meiner Erfahrung einen übersteigerten Drang, sich in Schuldgefühlen zu „wälzen“. Durch diese Herangehensweise verhindern sie ebenfalls, sich objektiv mit den verschiedenen belastenden Situationen auseinander zu setzen. D. h. sie übersteigern die Schuldgefühle. Durch die Übersteigerung leiden sie nicht an der eigentlichen Schuld, sondern an der selbstproduzierten. Bei allem Selbstproduzierte behalte ich aber unbemerkt die Kontrolle, und so stellen sich die Frauen bei Scham oder Schuld nicht dem wirklichen Geschehen in sich, sondern dem produzierten. Übrigens geht es femininen Männern weitgehend so wie den Frauen, und maskulinen Frauen wie den Männern.

Scham und Schuld als Funktion

Ich gehe davon aus, dass diese beiden Funktionen Scham und Schuld ihre Ursache in der Gruppendynamik haben und vor Jahrtausenden sowie heute eine Selbstregulierungsfunktion für das Leben in der Gruppe/Horde erfüllen. Demnach sind sie ungeheuer wichtig, uns im Miteinander zu helfen und sogar zu führen. Denn empfinde ich Scham oder Schuld, so signalisiert mein Innerstes, dass ich die Situation, in der ich mich befinde, noch einmal überdenken muss, um zu einer neuen Einschätzung zu kommen. Es sind also Hilfsfunktionen, doch wir machen Bedrohungen daraus. Letzteres wird vor allem von der christlichen Seite her bis zur Perversion gefördert: Mea culpa. So sagte mir einmal der tibetische Meister Sogyal Rinpoche, dass sich kein Tibeter ablehnt, denn er verliert sich nicht in Schuld und Scham. Aber genau das tun wir. Wir übertreiben die Bedrohung durch die Hilfsfunktionen Schuld und Scham bis zur Selbstzerstörung hin.

Was können wir tun?
1. Wir müssen lernen, mit dem Gedanken zu leben, dass jeder Mensch (und so auch ich) fehlerhaft ist und demzufolge Schuld und Scham immer entstehen können.

2. Haben wir das entsprechende Körperbewusstsein entwickelt (ohne das geht es nicht!), setzen wir uns in der Meditation hin und erlauben uns, in erlebte Situationen zu gehen, in denen wir mit unseren Funktionen Scham und Schuld konfrontiert wurden.

3. Wir bleiben bei den auftretenden Körperempfindungen und lassen sie sich ausbreiten.

4. Wir versuchen, das Gehirn daran zu hindern, eigene Gedanken und Bilder zu produzieren, denn dann verlieren wir das Körperbewusstsein und werden von diesen Vorstellungen, die nicht unsere sind, absorbiert. Als Anker für uns als Bewusstsein können dabei die von mir empfohlenen Erdungsübungen gute Dienste leisten (Siehe den Artikel „Erdung“ = Die erste Übungsreihe).

5. Schließlich werden wir wahrnehmen, dass sich, durch das Zulassen von Scham oder Schuld, eine wohltuende Wärme in uns ausbreitet. Lassen wir diese zu, wird es in uns heller, somit sind wir „heiler“!

Hier ein Dialog mit der Korrekturleserin:

Lieber Rudi, das finde ich ja ein Thema, das sehr schwer klar zu beschreiben ist, da Schuld und Scham eben jede Klarheit fehlt, und es ja eigentlich sehr unterschiedlich dargestellt werden muss, je nachdem, welchen Adressaten du hast. Ich hatte mit einigen Sätzen Schwierigkeiten und habe versucht, sie umzustellen, habe es mir laut vorgelesen. Schau mal.
Deine Bemerkung mit den femininen Männern bzw. maskulinen Frauen finde ich interessant. Ich hatte es immer mit Erziehung in Verbindung gebracht. Hat es damit zu tun, dass Frauen sich mehr für alles Mögliche, für alle anderen verantwortlich fühlen?

- Kommentar: Da bin ich sicher!

Früher habe ich es als einen dichten Nebel empfunden, der sich über alles legt. Jetzt spüre ich mehr dieses dumpfe Gefühl des Unbehagens, das sich in Bauch- und Brustraum ausbreitet, ein Heiß-Werden und eine große Verwirrung.

- Kommentar: Scham und Schuld liegen für mich dicht an der transpersonalen
Ebene, daher die viele Energie und die daraus resultierende Unordnung des Kopfes.

Die Gedanken rasen und versuchen panisch etwas zu finden, das mich wieder in einem guten Licht dastehen lässt.

- Kommentar: Das Werten müssen wir raus lassen!

Lieber Rudi, mir kamen noch einige Gedanken zu dem Thema. Vielleicht kannst du ja etwas damit anfangen:

Aus der Meditationssicht ist deine knappe Beschreibung richtig. Aus der Sicht eines Menschen, der häufig in diesen Empfindungen der Schuld und der Scham "drinsteckt", würde ich es folgendermaßen darstellen:

1. Schuld und Scham sind - wie du es beschreibst - notwendig für das Funktionieren der Gruppe oder Horde. Nun entwickelt jede Gruppe ihre eigenen Gesetze. Dementsprechend variiert, wofür sich ein Mensch schuldig fühlt und schämt.

Diese so sinnvolle Fähigkeit, die ja auch ein Zeichen für den Entwicklungsstand einer Gruppe ist, wurde und wird in vielen christlichen Kreisen bewusst als Erziehungsmittel missbraucht. Ich erinnere mich an viele Situationen in meiner Kindheit, in denen meine Eltern heftig reagierten und mich oft bloßstellten, Situationen, in denen ich mich dann brennend geschämt habe und von denen ich jetzt sagen würde: Es ist normal, dass ein Kind sich so verhält. Das Ausmaß der Reaktion meiner Eltern entsprach zwar den Regeln der Umgebung, in der ich aufgewachsen bin. Aber es entsprach in keiner Weise dem, was ich "getan" hatte. Also konnte ich kein stimmiges Gefühl für mein Verhalten, mich und die Gruppe betreffend, entwickeln.

Heute schäme mich in nichtigen Situationen. Oft sind es nur kleine Bemerkungen, die ich mache, die dieses brennende Gefühl der Scham, dieses Gefühl nicht richtig zu sein, so wie ich bin, in mir auslösen. Oft messe ich mein Verhalten an den Reaktionen der anderen, ohne deren Empfindlichkeit mit einzubeziehen. Oft sind es meine eigenen Vorstellungen, die von indifferenten Reaktionen der anderen ausgelöst werden.

2. Ich gehe noch einmal auf die Funktion von Scham und Schuld zurück. "Denn empfinde ich Scham oder Schuld, so signalisiert mein Innerstes, dass ich die Situation, in der ich mich befinde, noch einmal überdenken muss, um zu einer neuen Einschätzung zu kommen." Das kann ich nur aus einem Geerdet-Sein heraus. Wenn die Gedanken rasen und ich in meinen Schuld- und Schamgefühlen gefangen bin, muss ich zurückgehen und die Schritte tun, die du unter 1. bis 4. aufgeführt hast. Aber ich tue es mit dem Wissen, es braucht Zeit.
Ich nehme mir die Zeit, alles in mir wahrzunehmen und vor allem zuzulassen. Dazu genügt keine halbe Stunde Meditation.

Das ist erst der Beginn. Nach diesen 20 bis 30 Minuten stehe ich auf und gehe meinen gewohnten Tätigkeiten nach. Denn wenn ich in so einer Situation länger meditiere, verbeiße ich mich und will einen schnellen Erfolg sehen.

Bei allem, was ich jetzt tue, bleibe ich bei meiner Körperwahrnehmung und achte vor allem darauf, dass ich alle Gedanken begrüße und erst dann herunter sinken lasse. Für mich ist es sehr wichtig, alle Gedanken kommen UND ziehen zu lassen.

Dann kann ich nach und nach beobachten, wie alles sich in den inneren Raum ausbreitet. Es darf seinen Raum einnehmen, darf somit endlich sein. Erst dann, und dieser Prozess dauert manchmal 1 - 2 Tage, kann sich alles auflösen und ich bin in der Lage, die Situation neu zu überdenken. Meistens war es wirklich eine Kleinigkeit, die im menschlichen Umgang passierte, etwas, das ich mir und dem anderen dann verzeihen kann. Erst dann kann ich auch den anderen in seiner Verletzlichkeit sehen und annehmen und diese Verletzlichkeit, wenn ich es will, in mein Verhalten mit einbeziehen.