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Grundzüge der Wandlungsangst

Auf meinem mittlerweile 25 jährigen Meditationsweg und meiner auch intellektuellen Auseinandersetzung damit, fiel mir immer wieder auf, dass in allen mir bekannten spirituellen Büchern die Angst nie ein Thema war. Das ist einer der wichtigsten Gründe, weshalb ich mich mit diesen Webseiten beschäftige, denn bei meiner eigenen Entwicklung und in meiner Rolle als Meditationslehrer entdeckte ich, dass der Umgang und die Begegnung mit der Angst ausschlaggebend für die Entwicklung ist.
Die Angst scheint von der Natur in alle Wesen eingepflanzt worden zu sein, um den erreichten Entwicklungsstand zu schützen und abzusichern. Jede Wandlung bedeutet automatisch eine Auseinandersetzung mit der Absicherung und ruft dadurch Angst hervor.

Wer hierauf nicht vorbereitet ist, wird sich vom Weg abwenden, auf der Stelle verharren und schließlich zurückfallen in das alles bestimmende Ego: den von Kindheit an bestimmenden Mechanismen. Was bleibt, ist eine rein mentale Spiritualität, die sich nach äußeren, ausgedachten oder übernommenen Normen richtet und kein ernsthaftes Wachstum beinhaltet.

Da der Weg, wie ich ihn verstehe, eine tiefgreifende Wandlung hervorruft, möchte ich diese spezifische Angst Wandlungsangst nennen.

In den östlichen Ländern der Erde und im alten Christentum wurde die Auseinandersetzung mit dieser Wandlungsangst durch das bedingungslose Vertrauen dem Meister, dem Meditationslehrer oder gar Gott gegenüber aufgefangen und kompensiert. Durch die Individualisierung seit der Aufklärung sind die meisten Menschen im Westen zu diesem bedingungslosen Vertrauen nicht mehr fähig und auch im Osten wandelt sich dies in den letzten Jahrzehnten.
Das hat zur Folge, dass sich auch die Formen des Weges ändern müssen und die inneren Auseinandersetzungen nicht mehr rein traditionelle Formen haben werden. Schon Aurobindo erkannte dies in den 20iger Jahren des letzten Jahrhunderts und propagierte den individuellen Weg. (Siehe im Internet: Stichwort Aurobindo)
Das Vertrauen, das in Sekten und in den Religionen gefordert und mit Glauben definiert wird, ist kein echtes bedingungsloses Vertrauen einer reifenden Persönlichkeit, sondert führt zu Regressionen. Dies hat Ken Wilber eindrucksvoll beschrieben.
Der neue Weg in der westlichen wie östlichen Welt muss sich noch herauskristallisieren. Auf jeden Fall wird hierbei meines Erachtens der Umgang mit der Wandlungsangst im Mittelpunkt stehen. Ihr kann keiner ausweichen!

Woher kommt diese Angst?
Auf jeden Fall hat diese Angst nichts mit den normalen uns bekannten Ängsten vor etwas oder mit der Angst vor der Angst zu tun. Diese Wandlungsangst ist viel fundamentaler und uns somit fremd. Am ähnlichsten scheint sie mir den Ängsten der kleinen Kinder und den Ängsten in der Pubertät zu sein. Nichts stimmt mehr!, gerade dies ist das Entscheidende für Menschen dieser Altersstufen.
Diese Wandlungsangst ist ein Resultat des Schöpfungsaktes: Aus dem Formlosen entsteht die Form. Damit die Form erhalten bleibt, ist etwas von der Schöpfung in sie eingepflanzt worden. Dies ist: der Wille zum Leben als Form und zugleich die Angst vor der Beendigung der Form.

Beide Kräfte, dieser Wille und diese Angst arbeiten optimal miteinander, so dass sie nicht getrennt betrachtet werden können. Eigentlich kann die Wandlungsangst deshalb als Todesangst bezeichnet werden.
Wie sich dieser Wille zur Form als menschlicher Ausdruck aufbaut, können wir bei kleinen Kindern beobachten. Schon das Baby interessiert sich für jegliche Formen. Es greift nach diesem und jenem. Es wird von den verschiedenen Formen angezogen oder abgestoßen. Dann kommt die Phase, in der im Kind große Freude ausgelöst wird, wenn im Sandkasten von Erwachsenen "Kuchen gebacken wird" und der Kuchen vom Kind zerstört werden kann. Diese Auflösung der Form ist wie eine ungeheure Befriedigung, sie wird freud- und lustvoll erlebt. Hier wird die Form nur gebildet, damit sie wieder zerstört werden kann. Das Formlose scheint somit noch faszinierender zu sein als die Form.

In diesem Zusammenhang frage ich mich, ob das Formlose, das so genannte Chaos der modernen Chaosforschung ist.
Ganz wichtig erscheint mir die Beobachtung, dass dem kleinen Kind anscheinend gleichgültig ist, welche Form der Erwachsene aus dem Sand bildet, es ist die Zerstörung, die solche Freude auslöst. Später ist das Formen und Zerstören gleichwertig, bis dann spätestens mit fünf Jahren die Erhaltung der Form dominiert und ihre Zerstörung oder eben Wandlung (denn der Sand ist ja nicht verschwunden, nur die Form) Trauer und Aggression auslöst.
Nun scheint das Ego des Menschen fertig zu sein und es folgt in den nachfolgenden Jahren nur noch eine Ausdifferenzierung. Der Umgang mit den Formen dominiert nun, ihre Zerstörung wird sanktioniert. Das Kind ist schulreif.
Diese Ausschließlichkeit wird nun von der Gesellschaft gepflegt und gefördert. Das heißt, die Auseinandersetzung mit der äußeren Welt erhält ihre absolute Dominanz. Die innere Welt wird zu einem Nichtsein degradiert oder zumindest als gefährlich und störend eingestuft. Sie muss beherrscht werden.
Dann kommt die Pubertät, in der sich die innere Welt mit Macht meldet. Diese innere Welt müsste meines Erachtens nun wieder dominant werden. Doch die Sozialgesetze der Gesellschaft haben die Erwachsenen schon so "deformiert", vom Lebendigsein entfernt, dass sie mit aller Macht dagegen halten und diese sich meldende Innenwelt sogar verteufeln. Würde man der Innenwelt die ihr zustehende Bedeutung lassen, hieße das, die Gesellschaft verlöre ihre Kontrolle und Form. Dieses Wagnis ist ihr zu groß. Ohne diese Kontrollfunktion hätte die Menschheit wahrscheinlich auch gar nicht überlebt.

Zitat eines Korrekturlesenden:
"In afrikanischen Stämmen gibt es oft keine so genannte Pubertät. Im Initiationsritus werden die Kinder zu Erwachsenen." So scheint es eine Sache der westlichen Gesellschaft zu sein, dass Kinder über die Pubertät zum Erwachsenen heranreifen, ohne dass sie spezielle Hilfe erhalten! Vielleicht haben sich bei den "Naturvölkern" die Menschen vom Wissen um das Wesentliche nicht so weit entfernt wie wir.

In den folgenden Jahren manifestiert sich dieses von der Gesellschaft geförderte und geformte Ego, bis es dann zwischen dem 40ten und 45ten Jahr noch einmal aufbrechen kann und bei vielen auch aufbricht. Doch bei den meisten ist das Ego so gefestigt, dass dieser erneute innere Aufbruch außer psychosomatischen Reaktionen keine tief greifenden Folgen hat. Die Wandlungsangst wird überdeckt durch oberflächliche Ängste und verliert ihre Dynamik, bis sie schließlich als Todesangst im Moment des Sterbens ihren endgültigen Siegeszug antreten kann. Dann aber hat sie kaum noch die Möglichkeit, dem Menschen die nötige Wandlung und Reifung zu ermöglichen.

Der Umgang mit der Wandlungsangst stärkt die Persönlichkeit
Was heißt in diesem Zusammenhang Stärke? Unter Stärke verstehe ich hier das Erkennen, nicht intellektuelles Verstehen, dass jede Form in Wandlung begriffen ist, dass es keine ewigen Formen gibt, dass alle Schöpfung dual, also instabil ist.

Alles ist im Fluss.

Alles ist vergänglich.

Nichts ist beständig.

Alle klugen Menschen nicken nun mit dem Kopf und bestätigen die Wahrheit dieser Aussagen. Doch wenn es an das eigene Erleben geht, wenn die eigentliche Konsequenz dieser Aussagen näher rückt, zucken sie zurück und bauen möglichst unüberwindliche Barrieren auf. Sie übersehen, dass gerade diese Barrieren sie vom eigentlichen Leben trennen.

Unter diesen Barrieren verstehe ich:
1. Auf der somatischen Ebene die Muskelpanzer und die Auswirkungen psychosomatischer Krankheiten.

2. Auf der psychischen Ebene Verdrängungen, Übertragungen und jegliche Form von Neurosen.

3. Auf der mentalen Ebene festsitzende, engstirnige Wertungen oder gar wie so oft zu beobachten: Ein ausschließlich geltendes Wertesystem.

Essenz:
Der Wille zum Leben und die Wandlungsangst haben für die Evolution eine herausragende Bedeutung: Ohne sie gäbe es keine Evolution. Der Menschheit steht nun auf der Entwicklungsstufe, dies weitgehend zu erkennen. Der einzelne Mensch kann und muss jetzt seine Entwicklung beschleunigen. Dieses Wissen wird nicht mehr im Verborgenen gepflegt.
Auf sein Leben zurück blicken heißt somit zu erkennen, dass das Leben Bewegung ist (und im Fluss ist) und nicht aus festen Formen besteht. "Feste" Formen sind nur Ausdruck des Lebens, ein Spiel des Lebens und sie sind abhängig von der Gestalt unserer Sinne.
Erkennen wir dies (hiermit meine ich kein intellektuelles Verstehen), ist die Wandlung das eigentliche Leben. Ihr können wir sowieso nicht entgehen.
Die Freiheit des Menschen liegt in der Freiheit, uns der Wandlung in jedem Augenblick des Lebens zu stellen, sie anzunehmen und so den Blick auf das eigentliche Leben zu richten: Dann sind wir frei von dem Irrtum, dass das Leben gleich Form ist.

Ein Beispiel:
Mein Sohn Joshua war 5,5 Jahre alt. Eines morgens wachte er bitterlich weinend auf. Als ich ihn fragte was los sei, antwortete er weinend, wie furchtbar er es fände, dass alle Menschen sterben müssten. Ich erzählte ihm, dass ich von der Meditation her wüsste, dass es in uns einen Bereich gäbe, der nicht sterben könne, dass wir dieser Bereich eigentlich sind und dass deshalb die Leute, die er kennt, zu uns kommen und meditieren. Als ich weiter erklären wollte, winkte er ab und ging spielen. 1,5 Jahre später saßen wir zusammen in der Badewanne. Er spielte mit einigen Schiffchen. Plötzlich sagte er zu mir: "Wenn ich eigentlich nicht sterben kann, dann ist es doch möglich, als Tier oder Pflanze wiedergeboren zu werden?" Als ich völlig überrascht fragte, woher er das wüsste, sagte er, das habe er sich ausgedacht.
Da wir nie über Meditationsthemen sprechen, muss das wirklich aus ihm gekommen sein. Die Zeit zwischen den Gesprächen schien nicht existiert zu haben.