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V. Vom Lichtkreislauf und seinen Entstellungen und Fehlern

1. Meister Lü sprach:
Euer Werk wird allmählich Reinheit und Reife erlangen; bevor man jedoch den Zustand des dürren Baumes und des starren Felsens erreicht, gilt es noch viele Wirrungen und Misserfolge zu bestehen, die ich genau erklären möchte. All dies wird man erst verstehen, wenn man es persönlich erlebt.
In diesem Sinne will ich darüber sprechen.

Kommentar: „Reinheit“ bedeutet für mich die Durchdringung des Körpers mit unserem Empfindungsbewusstsein.
Jede dauerhafte Muskelverspannung deutet auf einen neurotischen Aspekt hin. Da Körper, Psyche und Denken enger miteinander verwoben sind, als viele Menschen glauben, ist jede körperliche Verspannung ein Zeichen von dauerhafter, verdrängter, psychischer Belastung, die wiederum bestimmte Denkvorgänge erzeugt. Bevor wir intensiv mit dem Kreisen des Lichtes beginnen, sollten wir uns einige Jahre Zeit nehmen, die Informationen, die in den Muskelverspannungen abgelagert sind, zu erforschen und aufzulösen. Dabei helfen uns enorm die von mir auf den CDs gesprochenen Imaginationsübungen.
„Reife“ wiederum bedeutet, dass wir von den Neurosen geförderten mechanisch erzeugen Gedanken unseres Gehirns befreit sind und somit freier unsere eigenen Gedanken produzieren können.

Kurz gefasst: Mit Reinheit und somit Reife werden wir nicht mehr von unserem so genannten Unbewussten bestimmt und getrieben, sondern können auf ein frei gewähltes Ziel hin steuern.

„Wirrungen und Misserfolge“ sind auf diesem Weg unausweichlich. Ein unbewusst lebender Mensch wird fast ausschließlich von mechanischen Mustern gesteuert, die durch vorgeburtliche und nachgeburtliche Prägungen entstanden sind.

Ein Beispiel: Der Augenarzt stellt fest, dass meine kleine Tochter (z. Z. 6 Jahre alt) eine Brille benötigt. Sie ist entsetzt darüber. Abends sagt sie zu meiner Frau: „Ich will bei Oma sein.“ Die Mutter meiner Frau lebt noch, meine Mutter ist vor einem halben Jahr gestorben. Auf eine Nachfrage hin, stellt meine Frau fest, dass meine Tochter bei meiner Mutter im Himmel sein möchte. Am nächsten Morgen wird meine Tochter zum Kindergarten gefahren. Auf dem Weg parkt ein Auto am Straßenrand. Meine Tochter: „Ich finde es schlimm, dass es so viele Unfälle gibt.“ Ihr Gehirn produzierte durch den Schmerz über die Brille massiv negative Gedanken. Genau das wird von den meisten Menschen leider übersehen. Dieser Mechanismus wird durch das Öffnen der Muskelverspannungen aktiviert. Öffnen wir allmählich die Muskelverspannungen wird jedoch genügend eingefrorene Kraft frei, die uns wiederum hilft, unsere Emotionen und unser Denken bestimmenden negativen Impulse zu integrieren und schließlich zu überwinden.

„All dies wird man erst verstehen, wenn man es persönlich erlebt.“
Kommentar: Das kann ich nur unterschreiben, denn es werden Bereiche aktiviert, die jenseits unserer normalen Welt liegen.

2. Unsere Lehre unterscheidet sich von jener des Chan (Zen), indem sich uns Schritt für Schritt die Wirksamkeit offenbart.
Ich möchte zuerst über die Unterschiede sprechen, und dann, im nächsten Kapitel, über die sich offenbarende Wirklichkeit.

Kommentar: Dieses „Schritt für Schritt“ des taoistischen Weges prädestiniert diese Methode für die Meditation im Alltag. Dies möchte ich besonders betonen. Zu Beginn meiner Meditationsarbeit war ich von Zen begeistert, doch dann ging ich mehr und mehr auf Distanz, denn ich sah, was diese gradlinige Methode mit mir und den anderen machte. Bei den meisten Zen-Meditierenden entsteht durch die frei werdende Chi-Kraft eine Radikalität, die mit Klarheit verwechselt wird. Gerade das habe ich durch mein intensives, jahrelanges Bogenschießen eindringlich erfahren und weiß daher sehr genau, was der Meister unter „dürrem Baum und kalter Asche“ (siehe Absatz 6) versteht. Meiner Ansicht nach hängt das damit zusammen, dass die freigewordenen Energien, vom Ego übernommen und in Macht umgewandelt werden. Unser eigenes Unbewusstes beherrscht uns dann, ohne dass wir es merken, denn die Offenheit (das Geöffnet-Sein) fehlt.

3. Bevor man sich in der Lehre zu üben beginnt, muss man sich klarmachen, dass dabei dem Geist keine Hauptrolle zufällt. Man vergesse die Lehre und lasse sich in der lebendigen Weite (des Absoluten) leben, wo chi harmonisch und der Geist ausgeglichen ist. So wird man in den Zustand der Stille einzutreten vermögen.
Und in der Stille wird man in der Folge den Augenblick der Übereinstimmung (chi) und des Offenen chiao erfahren.

Kommentar: So wie der Meister oben indirekt vor der Methode des Zen warnt, möchte ich hier zum wiederholten Male die Anfänger davor warnen, diese Methode des „Kreisen des Lichts“, zu Beginn der Meditationsarbeit zu intensiv anzuwenden. Denn wandert man mit der Alltagspersönlichkeit in die erwähnte „lebendige Weite des Absoluten“ (das Geöffnet-Sein), so werden Urängste wach. Sie bestimmen dann unser Leben und verunsichern uns in allen Alltagssituationen und dies darf nicht sein. Im Zustand der Stille geht es uns dann zwar gut, denn wir sind in der Kraft und jenseits des Körpers, der Emotionen und Gedanken; begeben wir uns aber danach wieder in unseren Alltag, wird es für uns sehr schwierig. Unsere Persönlichkeit muss allmählich geschult werden, mit dieser uns nun zur Verfügung stehenden enormen Kraft auch im Alltag zu leben.

Die Kombination von chi-chiao bedeutet das, was ich unter Erden verstehe: Die Kraft (chi) in Kombination mit dem Geöffnetsein zum Kosmischen hin (chiao). Als Kernpunkt gilt das, was Hetty Draayer den Chipunkt nennt: Dies ist ein Bereich im Becken, der etwa acht Zentimeter über dem Damm vor dem oberen Drittel des Kreuzbeines im Innern unseres Körpers liegt. Es ist der Kern des unteren Elexierfeldes.

4. Beim Sitzen darf man sich nicht gehen lassen, d.h. in den Zustand der „Leere ohne Erkenntnis“ verfallen. Indem man alle Verhaftungen loslässt, sitzt man in gesammelter Aufmerksamkeit und innerer Bereitschaft.

Kommentar: Nun weist der Meister genau auf den Faktor hin, vor dem ich immer wieder warne: Üben wir uns nicht über Jahre in der Betrachtung unserer emotionalen Zustände, körperlichen Reaktionen und Gedankenfelder, so können wir während der Meditation nicht in die Stille fallen, sondern geraten in eine Dumpfheit, da uns die Angst vor den befreiten Verdrängungen gefesselt hält. Lassen wir uns auf die von mir empfohlene Vorbereitung und Schulung ein, wird es immer einfacher, uns auf die immer feiner werdenden Reaktionen in unserem Innern einzulassen, bis wir schließlich in den Raum und die Stille, die wir als Menschen eigentlich sind, hinüber wechseln.

Das Wort „loslassen“ mag ich nicht, denn es bedeutet einen aktiven Zustand. Beim Loslassen besteht zu neunundneunzig Prozent die Gefahr, dass wir nicht loslassen sondern verdrängen. Besser wäre es, dafür die Wörter „zulassen“ und „wahrnehmen“ zu benutzten. Lass ich das Unangenehme in mir zu und nehme es wahr, löst es sich nach einiger Zeit auf, denn das Unangenehme in uns ist immer nur eine Störung des Energieflusses und hat keine eigene Substanz.

5. Dabei darf man seinen Willen nicht zu sehr anspannen, um Erkenntnis zu erlangen.
Gewöhnlich ereignet sich die erste Erkenntnis der Wahrheit unerwartet. Das heißt nun nicht, dass man die Wahrheit nicht auch mit seinem Denken zu erfassen vermöchte; aber die Wahrheit liegt in der Mitte zwischen Sein und Nicht-Sein und wird erfahren in der Belanglosigkeit des Bedeutungsvollen. Mit gesammelter Aufmerksamkeit und lebendiger Klarheit lasse man los, gebe sein Wollen preis in tiefer Ruhe.

Kommentar: „Dabei darf man den Willen…“
Hier wird es deutlich: „Loslassen“ impliziert immer den Willen und dieser hat bei der Meditation nur die Aufgabe, uns zur Meditation zu bewegen. In der Meditation ist er immer absolut störend. Der Wille ist wie ein Bollwerk und so kann das Geistige nicht erscheinen.

Die Erkenntnis hat in unserem Wesen ihren Platz: Blitzartig verwandelt sich unsere Weltsicht, ohne unser Zutun. So haben wir keine andere Aufgabe, als bei den feinen Schattierungen unseres Inneren zu bleiben. Erkenntnisse ereignen sich dann unversehens und haben ihre Nachwirkung in uns. Das Denken braucht nicht nach ihnen zu lechzen.

In der Vertiefung liegt der Wert der Meditation. Allerdings müssen wir vom Ego her auch bereit sein, diese unmerklichen Veränderungen in uns zu würdigen. Ich nenne es: Die Änderung der Sicht! Und hier hat unser Denken und Wollen wieder seine Aufgabe zu erfüllen, doch dies findet dann nach der Meditation statt.

6. Ferner soll man sich nicht in die Welt der Verstrickungen und Unterscheidungen verirren. Verstrickung und Wahrnehmung ist der Bezirk, wo das mara der Fünf Agglomerate (1) herrscht. Es scheint, dass sogar noch im Zustand der Konzentration (samadhi) die Neigung zum dürren Baum und kalten Asche besteht, mehr als die Neigung „zur großen Erde und dem herrlichen Frühlingstag“. Dies eben ist die Verwirrung in dem Bezirk der Fünf Agglomerate, wo chi (Lebenskraft) kühl bleibt und der Atem stagniert. In jenem Bezirk gibt es viele kalte und leblose, starre Bilder und Figuren, und wenn man lange genug dort verbleibt, verfällt man der Starre wie ein dürres Baum und ein Fels.

Kommentar: In diesem 6. Punkt führt der Meister uns in noch tiefere Bereiche unseres Selbst. Gelang es uns in unserer Vorarbeit mit Hilfe der „Fünf Agglomerate“ (Anm. 1 und 2) als Bewusstsein in die transpersonale Ebene zu gelangen, so werden diese nun zu einem störenden Element. Als Einziges hat das „unterscheidende Bewusstsein“ noch seine Aufgabe zu erfüllen, damit wir nicht in die Gefahr kommen, zu viel nachzudenken, zu analysieren, uns in Vorstellungen zu verlieren und uns vor allem nicht von den nun aufflammenden Visionen faszinieren lassen oder ihnen gar zu folgen. Wir lassen alles zu, was kommt, und lassen uns nicht von dem „dürren Baum“ („Ach, so ist es!“) unterwerfen! (Anm. 3)

7. Ferner soll man sich vor den Gefahren vielfältiger Verstrickung hüten. Sobald man nämlich den Raum der Stille betritt, scheinen die unzähligen Fäden der Verhaftung plötzlich lebendig zu werden. Man möchte sie zerschneiden, vermag es aber nicht. Verfolgt man sie, findet man Gefallen daran und glaubt recht zu tun. So lässt man den Herrn zum Sklaven werden. Bleibt man lange genug dabei stehen, so verfällt man der Welt der Formen und Begierden.

Kommentar: „scheinen die unzählige Fäden der Verhaftung plötzlich lebendig zu werden“: Hier weist er auf die, wie wir es formulieren, Verdrängungen, Mechanismen und Instinkte unseres Egos hin. Jetzt tritt die Wahrhaftigkeit unserer Persönlichkeit ans Licht und so beenden gerade an diesem Punkt viele Meditierenden ihren Weg. Sie bekommen eine panische Angst vor sich selbst, schieben es dann aber auf die Übungen oder den Meditationslehrer.

„Man möchte sie zerschneiden…“ Auch dies ist ein ganz markanter Hinweis auf das Wollen unserer Persönlichkeit, dem Unangenehmen immer auszuweichen. Wie oft habe ich die Sätze gehört: „Das war eine schlechte Meditation“ oder „Das will ich nicht mehr“. Die Menschen haben durch die Entwicklung des „dürren Baumes nun die Kraft auch in dieser Ebene aktiv zu sein, und suchen die „gute“ Meditation, sie bleiben also in der Unterscheidung von Gut und Böse sowie angenehm und unangenehm, doch gerade das ist ein markanter Fehler, der sie in den Verhaftungen festhält. Folgt man diesen Verhaftungen und den sich anschließenden Vorstellungen, ist man in der Dumpfheit verfangen und ist trotz subjektivem Wohlbefinden völlig zurückgefallen.

8. Wer empor schwebt, wird im Himmel geboren, wer sich fallen lässt, kommt zu den Tieren, ins Reich der Fuchsgeister. Sie leben auf dem berühmten Berg und lassen sich´s wohl sein, sie genießen Wind und Mond, Blüte und Frucht, Korallenbäume und Juwelengräser. Sie leben dreimal fünfhundert Jahre. Wenn jedoch die Bedingungen des füchsischen Geistes erfüllt sind, so werden sie wiedergeboren in der Form anderer Existenzen.

Kommentar: Dieser Text ist leider sehr hieroglyphisch geschrieben und so bleibt mir nur eine reine subjektive Interpretation übrig, die ich auch aus den vorhergehenden Absätzen entnehme.

„Wer empor schwebt…“, wer gradlinig seinen Weg geht, ohne sich groß von den Abweichungen (Irrungen, Wirrungen, Ablenkungen usw.) aus der Bahn werfen zu lassen, wer annimmt, was in ihm erscheint, es in sich ausbreiten lässt, also nicht ablehnt, wird die transpersonale Ebene der Goldenen Blüte erreichen. Wer sich der Gier nach Genuss hingibt oder sich der Askese ausliefert, wer sich also vom inneren Weg ständig in den vielen Sackgassen verirrt und darin niederlässt, wer sich mit den natürlichen Begebenheiten der persönlichen Mechanismen identifiziert, wird zwar auch besser leben als die nicht meditierenden Menschen, denn er findet Anschluss an Chi (der Lebenskraft), doch er wird sich nicht der Weite (dem Raum) oder der Stille öffnen können und somit immer wieder zurückfallen und den Weg neu beginnen müssen: „…wiedergeboren in der Form anderer Existenzen.“

9. All dies sind die Wege der Verwirrung. Wenn man sie eingesehen hat, soll man die Offenbarung der Wirklichkeit suchen.

Kommentar: .Das, was hier so knapp und wie beiläufig in zwei Sätzen geschrieben wird, beinhaltet die größte Herausforderung für uns. Hierzu habe ich alle Artikel meiner Website gewidmet. In ihnen möchte ich immer wieder auf die Irrwege und Sackgassen aufmerksam machen, denen wir uns ständig ausgesetzt sehen. Lernen wir sie immer schneller zu erkennen und beiseite zu lassen, können wir gradliniger unseren eigentlichen Weg gehen und dieser führt uns in das einfache und erfüllende SEIN.

Anm. 1:
Fühlen und Empfinden
Erkennen und Wissen
der Wille (das Wollen)
unterscheidendes Bewusstsein
Kommentar: Diese Kräfte, die uns bis zum „dürren Baum“ geführt haben (voll „stehender“ Energie) müssen nun dem Offenen weichen und das LEBEN in uns gebären lassen (Das Fließen der Energie ohne Begrenzung.) Erst dann kann sich die Goldene Blüte in uns entfalten.

Anm. 2:
Agglomerate - Duden: Anhäufung, Zusammenballung

Anm. 3: Kommentar des chinesischen Übersetzers: „Dies ist die Beschreibung jenes Zustandes, die der Meister das „Sitzen in Stagnation und Dürre“ nennt. Darin offenbart sich zwar die Natur, aber nicht LEBEN. Das ist die Gefahr für alle, die noch nicht zum Offenen von Chi hingefunden haben (Chiao).“