Wie Oben So Unten

IV. Kreisen des Lichts als Rhythmisierung des Atems

1. Meiser Lü sprach: Unserer Lehre kann nur genügen, wer sich gesammelten Herzens übt.
Erfolg hat nur, wer sich absichtslos müht, ohne Schielen nach Erfolg.
Die Fehler der Anfänger sind zwiefacher Art:
Schläfrige Benommenheit (Dösen, Duseligkeit) und Zerstreutheit.
Darin sind alle übrigen Fehler enthalten. Um sie zu überwinden, gibt es den Augenblick der Übereinstimmung und den Augenblick der Eröffnung: Aus- und Einatmung.
Man kann nie genug seinen Geist mit dem Atem in Übereinstimmung zu bringen versuchen. Unser Atem ist unser Geist und unser Geist ist unser Atem. Sobald der Geist sich regt, entsteht chi (vitale, materielle Kraft). So ist chi ursprünglich eine Verwandlung des Geistes.

Kommentar: Diese schlichten Sätze haben eine enorme Aussagekraft, die nur von ernsthaft Praktizierenden nachvollzogen werden können.
Meister Lü verlangt schon im ersten Satz, die volle Ernsthaftigkeit vom Übenden. Der Übende muss alles geben und gleichzeitig nichts erwarten. Schielt er auf einen Erfolg, wird sich der Erfolg nicht einstellen können, denn es geht für das Ego nicht darum, etwas hinzuzubekommen, sondern belanglos zu werden. Es geht also um das Sein. Wie oft habe ich schon den Satz gehört: „Jetzt übe ich schon so lange und mache immer noch diesen oder jenen Fehler in meinem Leben.“ Es geht nicht darum, keine Fehler mehr zu machen, sondern eine neue Lebenseinstellung in sich wachsen zu lassen, oder wie ich es ausdrücken möchte: Die Sicht zu ändern.

In allen Meditierenden beginnen nach einiger Zeit Widerstände wach zu werden: Dumpfheit und Zerstreutheit (Unruhe), bei vielen auch Langeweile: „Was tue ich denn eigentlich hier? Ich könnte doch besser ins Kino gehen oder in Urlaub fahren.“ Jetzt kommt es natürlich darauf an, mit welch innerem Drang man meditiert und mit welcher Einstellung der Meditierende sein eigenes Leben betrachtet. Auf jeden Fall sollte sich jeder klar machen, dass durch die Meditation nichts sichtbar wird, was nicht schon im Menschen angelegt ist. Wir begegnen uns selbst, so wie wir schon immer waren und sind. Es wird nur alles deutlicher sichtbar.

Im zweiten Teil des Textes wird auf die Früchte hingewiesen, die aus dem Meditieren erwachsen: Der geregelte Atem mit seinen vier Etappen: Ausatem, Pause, Einatem, Pause gibt uns die Chance, uns ganz auf diese Bewegung einzulassen und alles andere kommen und gehen zu lassen. Der Wert, der Sinn des Lebens liegt in diesem Atem, denn er ist der Rhythmus des Geistes! Dieser Atem löst Energiewahrnehmungen aus: z. B. ein Fließen im Rücken oder die Empfindung, im unteren Bauch entstehe eine Kraft, Schwindelgefühle im Kopf, ein Schwitzen oder Frieren, Zuckungen der Muskulatur usw. Hier meldet sich das, was die Chinesen Chi nennen. Die Germanen nannten es Od, die Inder Prana, die Ägypter Ka.

Schaut der Meditierende vom Ego her, so sind dies interessante Erlebnisse, die die Neugierde wecken oder als erschreckend erlebt werden. Doch Meister Lü weist ausdrücklich darauf hin, dass es der Geist selbst ist und dies gilt es zu würdigen!!! Das bedeutet, dass wir dann Neugierde (Wachheit) werden und Angst oder Erschrecken sind und gleichzeitig als Wahrnehmung wahrnehmen, dass da Neugierde, Angst und Erschrecken ist.

2. Unsere Vorstellungen folgen sich in schnellem Wechsel, ein flüchtiger Gedanke dauert bloß einen Atemzug lang. Deshalb ist das körperliche Ein- und Ausatmen wie ein Echo des inneren Atemholens. Täglich tun wir Tausend und aber Tausende von Atemzügen und haben ebenso viele Phantasievorstellungen.
Aber wenn der Geist klar wird und klesa zum Erlöschen kommt, dann gleicht man einem dürren Baum und kalter Asche. (Wilhelm: so entrinnt die Geistesklarheit, wie das Holz verdorrt und die Asche stirbt.)

Kommentar: Die mächtigste Ablenkung vom eigentlichen Sein und somit Sinn unseres Lebens wird durch die Vorstellungen erzeugt. Wir merken dies nicht, da wir gewöhnlich mit unserem Denken den Vorstellungen folgen und in der Illusion leben, es wären unsere eigenen Gedanken. Das stimmt jedoch nicht, denn es sind Konstruktionen des Gehirns, mit denen es ständig beschäftigt ist. Erst wenn wir einen neuen Fixpunkt in uns gefunden haben: Die Beachtung der Atmung (Ich empfehle weiter zu gehen und die Körperwahrnehmung hinzuzunehmen) merken wir, in welcher Sklaverei wir uns eigentlich befinden. Lernen wir nicht dies zu beachten, so verlieren wir immer mehr die geistigen Kräfte und sind recht bald lebende Tote (Wilhelm: ein dürrer Baum, verdorrtes Holz, kalte Asche). Dann wundern wir uns, dass wir unsere Lebensfreude verloren haben und machen schließlich die anderen oder die ganze Welt dafür verantwortlich.

Sind wir mit der Beachtung des Atems verbunden, so sind wir mit der Urkraft der Schöpfung in Kontakt. Dem Werden und Vergehen. Wir sind Leben geworden.

3. Man mag noch so sehr wünschen, den flüchtigen Gedanken Einhalt zu gebieten, es gelingt nie, eben sowenig wie man ohne Atemholen zu leben vermag. Das Beste ist also, aus der Krankheit eine Medizin zu machen: Sobald Geist und Atem miteinander übereinstimmen, hat das Übel (Dumpfheit und Zerstreutheit) ein Ende. Daher soll man, will man das Licht kreisen lassen, gleichzeitig sich in der Rhythmisierung des Atems üben.

Kommentar: Wenn wir uns genau beobachten, entdecken wir, dass wir unser gesamtes Leben auf Rhythmen aufbauen. Viele sagen dazu irrigerweise Gewohnheiten, doch eigentlich sind es Rhythmen. So ist eigentlich der gesamte Kosmos aber auch das Innere der Atome in ständigem Rhythmus. Selbst die Prosasprache der Dichter wirkt durch ihre Rhythmik. Das Gleiche findet in jeder Beziehung statt. Interessant wird es erst, wenn wir wahrnehmen, dass wir unter Freiheit oft ein Ausbrechen aus gewohnten Rhythmen verstehen. Dabei bemerken wir nicht, wie wir abermals in einen Rhythmus hineingeraten. So kann man sagen, dass Rhythmen zum Leben unabdingbar dazu gehören und wir diese Erkenntnis somit bewusst für unsere innere Entwicklung nutzen können. Wir begeben uns mit vollem Vertrauen in die oben mitgeteilte Erfahrung der chinesischen Weisen und spulen uns in den gleichmäßigen Rhythmus der Atmung ein. Wir folgen mit dem Empfindungsbewusstsein vom Steißbein her in der Einatmung die Wirbelsäule aufwärts, wandern über den Kopf und folgen in der Ausatmung von der Stirn her unserer Vorderseite über Kinn, Brustbein, Nabel, Schambein, Geschlechtsteil und Damm wieder zum Steißbein hin.

Alles, was dabei wahrgenommen wird oder frei wird, akzeptieren wir und bleiben bei unserer Übung. Ich möchte jedoch davor warnen, dass bei manchen zu viel Energie frei werden könnte, die nicht integriert werden kann. Dann sollte man mit ganzer Wachheit in die Sitzhöcker und Fußsohlen gehen, damit die überschüssige Energie in die Erde abfließen kann. (Siehe auch die Hinweise in der Einführung und meinen Artikeln über das Erden.)

Die nun gehäuft auftretenden Gedanken und Vorstellungen gilt es bewusst am Anfang zu ignorieren. Hat sich ein gleich bleibendes Energiefeld spürbar in uns kristallisiert, müssen wir damit beginnen, von diesem Energiefeld her das Auftauchen und Vergehen der Gedanken zu beobachten. Irgendwann sind wir so geschult, dass wir die Lücke zwischen den Gedanken entdecken und durch diese Lücke in geistige Ebenen eintreten können. Dann hört irgendwann das Gehirn von selbst auf Gedanken ungewünscht zu produzieren.

4. Dazu bedarf es des Ohren-Lichts.
Es gibt ein Augen-Licht und ein Ohren-Licht.
Das Augen-Licht ist die Vereinigung von Sonne und Mond (der Gestirne). Das Ohren-Licht ist der Schnittpunkt der Strahlen des inneren Mondes und der inneren Sonne im Samenkorn. Das Samenkorn ist also der Ort, wo das Licht sich sammelt und vereinigt.
Das innere und äußere Licht haben denselben Ursprung, aber verschiedene Namen. So ist denn Verstand und Weisheit (Verstehen durch das Ohr) und Klarheit und Einsicht (Erhellung durch das Auge) ein und dasselbe wunderbare Licht.

Kommentar: Hier wird noch einmal deutlich, was dieser Meister an persönlicher Entwicklung voraussetzt. Augen-Licht und Ohren-Licht sind konkrete Wahrnehmungen. Um diese beiden Wahrnehmungen zu „erreichen“ brauchen wir eine langjährige Vorarbeit, die ich als so genanntes „Erden“ anbiete.

a) Augen-Licht: Was meiner Erfahrung nach hier angesprochen wird, ist die bewusste Durchdringung und Vereinigung der rechten und linken Gehirnhälfte. „Arbeiten“ beide optimal zusammen, so flammt ein Licht in uns auf und der ganze Körper wird gereinigt und als Ganzheit wahrgenommen.

b) Ohren-Licht: Den Raum hinter den Ohren nannte meine Meditationslehrerin Hetty Draayer „die kosmischen Radarfelder“. Erobern wir mit unserem Empfindungsbewusstsein diesen Bereich, werden die Schläfenlappen des Gehirns aktiviert und beginnen zu leuchten. Unsere natürliche Intuition wird mehr und mehr zum Wissen bis hin zur Weisheit und wir werden unabhängig von den Kleinlichkeiten des Alltags. Die Schau beginnt.

c) Auf dem Weg zum Augen-Licht und Ohren-Licht wird die Epiphyse und ihre Umgebung aktiviert und beginnt stärker zu strahlen. Die Epiphyse ist unser Lichtorgan, die den Wach- und Schlafrhythmus steuert und darüber über die Hypophyse unseren gesamten Hormonhaushalt. Es ist natürlich vom Medizinischen her nicht bekannt, dass sie die physische Spiegelung des „Tausendblättrigen Lotus“ ist, dem Kronenchakra, in dem sich alle anderen Chakren spiegeln. Insofern sind Ohren-Licht und Augen-Licht, Epiphyse und Kronenchakra in ihrer Wurzel identisch.

5. Hat man beim Sitzen den Vorhang der Augen niedergelassen, lässt man den Blick sich in natürlicher Weise senken und achtet nicht mehr darauf. Befürchtet man jedoch, sich nicht auf die Ruhe seines Blickes verlassen zu können, so richte man seine innere Aufmerksamkeit auf den Atem. Man soll seine Atemzüge nicht mit den Ohren wahrnehmen: Horchen heißt hinhören nach dem Unhörbaren. Solange der Atem hörbar ist, ist er grob und oberflächlich und vermag nicht ins Geheimnis einzudringen. Das heißt, der Geist muss ganz leicht und leise werden. Je mehr er sich von der äußern Wirklichkeit löst, umso leichter wird er; je leichter er wird, umso stiller wird er. Übt man dies lange genug, so kommt, was leise und leicht ist plötzlich zum Stillstand. Dies ist die Offenbarung des Wahren Atems, und man erkennt das Wesen des Geistes.

Kommentar: Hier geht der Meister wieder ganz auf die Atmung ein und weist auf deren Bedeutung hin. Diese Hinweise können nicht ernst genug genommen werden.

„Horchen heißt hinhören nach dem Unhörbaren“: Mit den deutschen Wörtern hören – horchen oder sehen – schauen lässt sich unendlich viel aussagen: Hören und Sehen sind sinnenhafte Wahrnehmungen der Augen und Ohren. Horchen und Schauen dagegen sind geistige Vorgänge. Sie sind ganzheitlicher und nicht auf etwas hin gerichtet. Im Zustand des Horchens und Schauens nehmen wir ein Vielfaches wahr, bleiben aber unabhängig und sind frei dann auf das eine oder andere einzugehen. Bezogen auf unser Inneres müssen wir in den Zustand des Horchens und Schauens kommen. Dabei hilft uns der feiner und länger werdende Atem. Darauf achten leider viel zu wenige Meditierende. Allerdings kommt erschwerend hinzu, dass wir den Atem nicht manipulieren dürfen. Wir müssen ihn feiner und länger werden lassen. Das bedeutet andererseits, dass wir gleichzeitig an unseren Verspannungen und Verdrängungen „arbeiten“ müssen. Sind wir voller Ängste und in deren Folge voller Verspannungen, kann die Atmung nicht fein werden. So können wir an der Länge unserer Atmung feststellen, in welchem Zustand wir uns als Persönlichkeit befinden. Auf meiner Website habe ich einen Artikel über diese Atmung verfasst, darum hier nur ganz kurz: Die Alltagsatmung ist leider nur ca. 4 Herzschläge lang; die uns von der Natur zugedachte Atmung 18 Herzschläge; die von den alten Chinesen empfohlene Atmung jedoch ist bis zu 48 Herzschläge lang. Im Bereich zwischen 18 und 48 Herzschlägen kann es dann geschehen, dass unsere Atmung für eine gewisse Zeit aufhört. Setzt sie dann wieder ein, merken wir erst, wie grob –bezogen auf unsere geistigen Ebenen- selbst eine feine Atmung sein kann.

6. Ist der Geist gut, so taugt auch der Atem. Sobald der Geist sich regt, so regt sich chi. Ist der Atem in Ordnung, so taugt auch der Geist. Sobald chi sich regt, regt sich auch der Geist.
Will man den Geist zur Ruhe bringen, muss man sich erst um chi (den Atem) kümmern, denn der Geist ist nicht direkt zu fassen. So wird der Geist von Anfang bis Ende durch chi bedingt. Das heißt die Bewahrung des reinen chi.

Kommentar: Gerade mit dem Wort Geist wird in den verschiedenen Büchern Unterschiedliches gemeint und oft nicht klar ausgedrückt. Ich bin mir nicht sicher, was der Übersetzer hier mit „Geist“ übersetzt hat, darum möchte ich interpretieren:

Der „reine Geist“ hat die Aspekte Raum, Stille und Licht. Doch hier werden anscheinend die Persönlichkeitsaspekte Denken, Psyche und Körper gemeint. Will man diesen Aspekten helfen, zur Ruhe zu kommen, so geht dies ausgezeichnet über die Beobachtung des Atems. In der Ebene des reinen Geistes benötigen wir den Atem nicht mehr, dort stört er nur.

Die Basis der Persönlichkeitsaspekte ist chi. Kommen sie also zur Ruhe, so kann die heilende und reinigende Kraft des chi seine Aufgabe durchführen und uns reinigen, denn erst jetzt stören wir das chi nicht mehr.

7. Merkt auf: Wir haben den Begriff der Bewegung noch nicht abgeklärt. Bewegung gleicht einer vibrierenden Sehne. Es ist eine andere Bezeichnung für Meisterschaft. Das bedeutet, man darf den Geist nicht ausschließlich in konzentrierter Stille bewahren, sondern soll ihn auch der Bewegung freigeben. So hat der große Heilige denn scharf beobachtet und klar erkannt, wie der Geist und chi (vitale Lebenskraft) in Wechselwirkung miteinander stehen und sich gegenseitig bedingen, und er ersann eine kluge Methode, um in seinem Erbarmen der Nachwelt zu helfen.

Kommentar: Bewegung in jeglicher Form ist für mich identisch mit Leben, daher ist in uns ständig Bewegung. Die Meditierenden wünschen sich stets Ruhe, darunter verstehen sie meistens keine Bewegung. doch das widerspricht diesem Lebensbegriff. Absolute Ruhe wäre Tod! Selbst der Raum, die Stille und das Licht der geistigen Ebenen sind ständig in einer vibrierenden Veränderung begriffen und jede Veränderung ist natürlich Bewegung. So ist auch der Auftrag der Chi-Kraft in Bewegung zu sein. Steht sie still, geht es uns subjektiv übel. Darum sollten wir uns bemühen, den alten griechischen Begriff ernst zu nehmen: „Alles ist in Fluss“. Das Fließen enthält für mich alle positiven Kriterien: Freude, Freiheit, Kreativität, Vitalität, Jugend usw.

Als ich mit etwa 40 Jahren mit der meditativen Arbeit begann, war ich sehr erschrocken zu entdecken, wie tot ich schon war – also ohne Bewegung und Fließen. Erst allmählich begann das Fließen in mir Gestalt anzunehmen, so dass ich heute (67 Jahre) nicht weiß, welches Alter ich innerlich habe. Das konkrete Alter zählt dann nicht mehr.

8. In einem Lehrbuch des Elexiers heißt es: Die Henne vermag ihre Eier auszubrüten, weil ihr Herz unentwegt hinhorcht. Das ist das Geheimnis.
Das warme chi ist die Ursache des Ausbrütens. Wärme allein vermag kein Ei auszubrüten; es braucht chi dazu, das die Wärme in die Schale eindringen lässt. Der Geist der Henne vermag dem chi (der Lebenskraft) Eingang zu verschaffen. Das eben ist ihr Hinhorchen, die Konzentration ihres Geistes.
Wo der Geist ist, da ist auch chi.
Die Henne mag wohl zuweilen ihre Eier verlassen, aber ihre Aufmerksamkeit bleibt immer wach dabei.
Wo der Geist wohnt, gibt es keine, auch nicht die geringste Unterbrechung. Wenn das Wohnen es Geistes keine Unterbrechung erfährt, auch nicht die geringste, so wird auch die Wärme von chi nicht unterbrochen, weder tagsüber noch nachts, und der Geist wird lebendig.
Der Geist wird lebendig, sobald das Denken erloschen ist. Das Denken auslöschen heißt nicht, es zum Welken und Verderben bringen, sondern es aus der Zersplitterung zur Einheit sammeln.
Buddha sagt: Wer seinen Geist auf einen Punkt hin eint, dem ist kein Ding unmöglich.
Der Geist neigt leicht zum vagabundieren, aber man kann ihn klären (einen, konzentrieren) durch chi (Atemkraft). Chi wird leicht grob; daher muss man es durch den Geist verfeinern. Befolgt man dies, kann es nicht ausbleiben, dass der Geist sich konzentriert.

Kommentar: Hier wird die transpersonale Ebene angeführt und in Verbindung mit Chi und Atmung gebracht.

Der Hauptsatz lautet: Der Geist wird lebendig, sobald das Denken erloschen ist. Störend finde ich das Wort „konzentrieren“, denn damit wird der Wille angesprochen und dieser muss schweigen, wenn man als Bewusstsein zum Geist vordringen möchte. Statt „konzentrieren“ setze man lieber die Wörter Hinhorchen, Aufmerksamkeit, Sammlung (sich sammeln) ein. Ich möchte die Wörter Schauen und Körperempfindung hinzufügen. Ich rate dem Leser mit diesen Wörtern das Wort Konzentration auszutauschen, dann wird der Text klarer.

Die Voraussetzung für den Schritt in die transpersonale Ebene ist das Schweigen des Denkens. Das ist natürlich ein ungeheurer Anspruch an uns, wenn wir im Alltag leben und daher kaum zu realisieren. Daher rate ich jedem, den Weg über den Körper und seine Empfindung zu gehen. Es ist zwar ein Umweg, doch die Früchte sind das Stillwerden der Emotion und das Lebendigwerden des Körpers, da nun die Chi-Kraft optimal durch Organe, Muskeln und Knochen fließen kann. So werden wir von vielfältigen Ablagerungen gereinigt und finden dadurch schon einen befriedigenden Zugang zur transpersonalen Ebene und können uns dann als Einheit dem ständigen Denkprozess des Gehirns zuwenden. Aus dieser Einheit heraus erkennen wir den Automatismus des Denkens mit seinen Vorstellungen und lösen uns damit aus unserer Identifizierung mit diesen Vorgängen.

9. Die beiden Übel, Dumpfheit und Zerstreutheit, können durch stilles Bemühen bekämpft werden. Übt man täglich ohne Unterlass, findet man unfehlbar hin zum großen Ruheort. Es sei denn, man übe sich im Sitzen, wird man seiner Zerstreutheit nicht gewahr.
Der Augenblick, da man seiner Zerstreutheit gewahr wird, ist der Moment (chi) des Sieges über sie. Dösig zu sein und es nicht zu wissen, oder dösig zu sein und sich dessen bewusst zu werden, das sind zwei Dinge, die mehr als tausend Meilen weit auseinanderliegen. Wenn ein Mensch sich seines dumpfen Geistes nicht bewusst ist, dann ist er wirklich stumpf. Wird er dessen aber gewahr, so ist er bereits nicht mehr wirklich stumpf. Denn Klarheit und Einsicht sind bereits erwacht.

10. Zerstreutheit beruht darauf, dass der Geist umherschweift;
Dumpfheit ist der Zustand, da der Geist noch nicht rein ist. Zerstreutheit ist leichter zu heilen als Dumpfheit. Es ist wie bei einer Krankheit: Schmerzen und Reizungen kann man mit Meditation beikommen. Aber Dumpfheit und Trägheit sind wie eine Lähmung, der Mensch ist fühllos wie ein Baum.
Zerstreutheit kann man unter Kontrolle und Verwirrung in Ordnung bringen.
Aber ein dumpfer Mensch windet sich wie ein Wurm im Dunkeln. Zerstreutheit und Wirrnis sind noch fassbar, die Yang-Seele schlummert darin.
Aber in der Dumpfheit regiert allein die Yin-Seele.

11. Während des Sitzens wird man zuweilen schläfrig. Dies eben ist der Dumpfheit zuzuschreiben. Das einzige Heilmittel dagegen ist Rhythmisierung des Atems. Und zwar des Atems, der durch Nase und Mund ein und ausgeht. Zwar ist das nicht der Wahre Atem, jedoch das Wahre Atemholen vollzieht sich gleichzeitig mit dem physischen Atem.

Kommentar zu 9 und 11:

Mit Dumpfheit und Zerstreutheit müssen wir als Bewusstsein jahrelang kämpfen. Meiner Erfahrung nach beginnt es in den ersten Meditationssitzungen und endet eigentlich für Menschen, die im Alltag leben, nie.

Zu Beginn der Meditationsarbeit ist es vorwiegend die Zerstreutheit, die Unruhe, die durch das ungewohnte Sitzen, Liegen, Gehen oder Stehen in Verbindung mit der Innenschau aufflackert. Die Dumpfheit beginnt erst später, da sie am Anfang von der Neugierde überlagert wird. Doch recht bald beginnt sich die Dumpfheit als Müdigkeit zu melden. Oft sind auch beide gleichzeitig vorhanden: Die Dumpfheit im Kopf und die Unruhe in Beinen und Unterleib. Dann entsteht der Drang aufzuspringen und wegzulaufen. Beiden Zuständen können wir nicht entgehen. Allerdings verkleiden sie sich meistens in unendlich vielen anderen Eigenschaften: rasende Gedanken, Tagträume, emotionales Aufgewühltsein, als Juckreiz, Schmerz, Müdigkeit usw. Für all diese Zustände gibt es eine einfache jedoch in der Umsetzung sehr schwierige Lösung: Wir müssen sie akzeptieren und ihnen noch mehr Raum in unserem Inneren geben. Ärgern wir uns über sie, müssen wir diesem Ärger Raum geben. Kommt Angst auf, müssen wir dieser Angst Raum geben.

In dem folgenden Satz des Meisters liegt dieses Geheimnis verborgen: „Dösig zu sein und es nicht zu wissen, oder dösig zu sein und sich dessen bewusst zu werden, das sind zwei Dinge, die mehr als tausend Meilen weit auseinander liegen.“ Dieser Instanz, die sich dann in uns entwickelt, habe ich einen Namen gegeben: der „Beobachter“. Er gehört schon zu der transpersonalen (geistigen) Ebene. Es ist ein Zustand, von dem her alles Geschehen in der Persönlichkeit als Mechanismus erkannt werden kann. Wir erfahren dann als beobachtendes Bewusstsein, in welchem Gefängnis wir bisher gelebt haben und erkennen, in welchem die Mitmenschen leben. Mit diesem Erschrecken müssen wir dann erst klar kommen. Es macht aber auch einsam, denn wir gehören nicht mehr automatisch zu ihnen dazu.

Eine entscheidende Aussage verbirgt sich auch in folgendem Satz: „Zerstreutheit und Wirrnis sind noch fassbar, die Yang-Seele schlummert darin.“ Ich möchte zu dem Wort Zerstreutheit das Wort Unruhe hinzunehmen. In diesen beiden Zuständen verbirgt sich ein Kampf. Die Chi-Kraft möchte sich durchsetzen, doch die Persönlichkeit (Ego) hat Angst ihre Kontrolle zu verlieren und somit zerstört zu werden und wehrt sich gegen Chi. Ich habe noch niemanden erlebt (dazu gehören auch in der Meditation unerfahrene Menschen), die nach dem Akzeptieren der Unruhe sich nicht ruhiger und kraftvoller empfanden. Der Weg liegt also im Erkennen und Akzeptieren der Unruhe. Leider lassen sich die meisten Menschen von der Unruhe beherrschen und flüchten in irgendeine Aktion.

Jemand der generell dumpf ist, wird sich diesem meditativen Weg nicht stellen. Bei einer vorübergehenden Dumpfheit empfiehlt es sich zu schlafen und nicht zu meditieren, denn oft ist sie ein Zeichen von Erschöpfung. Erst danach empfiehlt es sich weiter zu meditieren. Diese Empfehlung darf aber nicht als Flucht genutzt werden. Nutzt der Meditierende gleichzeitig die von mir empfohlenen und auf CD gesprochenen Übungen in Verbindung mit der unter 11. empfohlenen Rhythmisierung des Atems, werden Chi-Kräfte im Becken wach, die uns immer schneller helfen, die Erschöpfungen zu überwinden und mit der Zeit die Dumpfheit verschwinden zu lassen.

12. Bei der Übung des Sitzens ist es unerlässlich, den Geist zur Ruhe zu bringen und chi, die Lebenskraft, zu reinigen. Das Atemholen darf nicht gehört werden, nur innerlich soll man es wahrnehmen. Ist der Atem unhörbar, ist chi fein; ist chi fein, so ist es rein; wird er aber gehört, so ist chi grob und trüb. Sobald chi trüb ist, wird der Mensch dumpf und schläfrig. Das versteht sich von selbst.

Kommentar: Die Belehrungen der Absätze 12 – 15 sind sehr klar und brauchen eigentlich keine Kommentierung. Trotzdem möchte ich auf einiges hinweisen.

Kommentar zu 12.: Ich möchte dringendst raten, den Atem nicht zu manipulieren. Ist er kurz und grob, akzeptiert man es, bleibt aber mit dem Gewahrsein bei dieser Atmung. Dann wird man erleben, dass er von selbst allmählich immer feiner wird. Wichtig dabei ist, dass wir durch Mund und Nase gleichzeitig ein- und ausatmen. Der grobe Atem deutet oft auf verdrängte Angst und Trauer hin. Werden sie wach, so gilt es von der Atmung wegzugehen und sich der aufsteigenden Emotion hinzuwenden und ihr Raum zugeben.

13. Jedoch es ist kein Leichtes, den Geist beim Atmen auf Stille auszurichten. Wird dies richtig geleistet, so ist es ein Tun im Nicht-Tun. Es ist nur möglich durch Erleuchtung und durch innerliches waches Hinhorchen.

14. Dieser Ausdruck (Erleuchtung und waches Hinhorchen) ist von tiefer Bedeutung.
Was heißt Erleuchtung? Es bezeichnet die natürliche (spontane) Leuchtkraft des Auges. Das Auge blickt nach innen und nicht nach außen.
Nach innen blicken heißt: die äußere Welt nicht wahrnehmen, aber in der Stille das Licht schauen – es handelt sich nicht um tatsächliches Einwärtsblicken.
Was heißt waches Horchen? Es ist das natürliche, spontane Horchen auf das Licht des Ohrs.
Die Ohren horchen dach innen und nicht nach außen. Nach innen horchen heißt: die Umwelt nicht vernehmen, sondern auf die Stille horchen. Es handelt sich nicht um tatsächliches Hören des Innern. Dieses Hören vernimmt das Unhörbare, und dieses Sehen erblickt das Unsichtbare.
Wenn das Auge nicht nach außen blickt und das Ohr nicht außen hört, so sind sie im Innern verschlossen und neigen dazu, dort zu versinken. Nur durch waches Blicken nach innen und waches Horchen nach innen verlieren sich Auge und Ohr weder im Innern noch im Außen, sondern begegnen sich wach und ohne Trägheit im Zentrum. Dies eben ist die Vereinigung der Strahlen von Sonne und Mond im Zentrum des Samens.

Kommentar zu 13. und 14.: Hier wird wieder auf den Unterschied Sehen und Schauen, Hören und Horchen hingewiesen. Sehen und Hören ist ein aktiver Vorgang, Schauen und Horchen ein passiver. Letztere gehören mehr zur Muße, die wir uns in der heutigen Zeit kaum gönnen oder sogar verlernt haben.
Ein wichtiger Hinweis liegt für mich auch in der Definition von Erleuchtung. Um diesen Begriff ranken sich viele Mythen in unserer westlichen Welt. Im Grunde ist es ein Wach-Sein, ein ständiges In-Kontakt-Sein mit den Ereignissen in unserem Innern. Haben wir uns dies erarbeitet, kann jede Situation im Alltag zu unserer Entwicklung beitragen. Dann beginnt das, was ich „Meditation im Alltag“ nenne. Damit wäre dann das Kapitel der Dumpfheit endgültig überwunden worden.

15. Wenn man beim Sitzen dösig und schläfrig wird, sollte man aufstehen und umhergehen. Sobald der Geist sich geklärt hat, soll man sich wieder hinsetzen. Am besten ist es, in der frühen Morgenkühle bei einer Weihrauchkerze zu sitzen. Am Nachmittag wird man durch Geschäftigkeit leicht abgelenkt und verfällt in Schläfrigkeit und Dumpfheit. Das Abbrennen einer Weihrauchkerze braucht man sich nicht zur Regel zu machen. Das Wichtige ist, sich aus der Verstrickung zu lösen. Übt man lange genug jeden Tag für eine Weile das Stille-Sitzen, so wird es gelingen, ohne dass man in Schläfrigkeit und Dumpfheit verfällt.

Kommentar zu 15. Ich möchte zur Haltung des Sitzens noch das Stehen, Gehen und Liegen hinzufügen, denn die Meditation kann mit dem Erwachen am frühen Morgen beginnen: Man kann sich daran gewöhnen, nach dem Erwachen sofort den Körper innerlich anzuschauen sowie zu spüren und seinen Zustand zu erforschen, statt in Tagträume und Dösigkeit zu versinken. Dadurch ermöglichen wir dem Chi, die in der Nacht durch schlechte Atmung und negatives Träumen entstandenen Verschmutzungen aufzulösen. Dann stehen wir bewusst auf und gehen im Wahrnehmen der Zehen-, Fuß-, Knie- und Hüftgelenke ins Badezimmer, verrichten dort bewusst unsere Geschäfte usw. Wer danach noch die Gelegenheit hat sich hinzusetzen, wird merken, wie wach er im Inneren geworden ist. Diese Wachheit ist Erleuchtung (nicht zu verwechseln mit der Buddhaschaft).

„Das Wichtige ist, sich aus der Verstrickung zu lösen.“ Hier empfehle ich eindringlich den vom Meister angegebenen Weg zu gehen: Nehme ich die Verstrickung wahr, bin ich nicht mehr verstrickt. Ich darf mir nicht verbieten, den Tag zu planen oder die Bilder zu verbieten, die nun aufsteigen. Auf das Gewahrsein dessen was ist kommt es an.